Wieviel Charlie darf’s sein? Welchen Sinn haben Spott und Provokation?

Mein Freund Hardy fragt sich: „Bin ich wirklich Charlie?“ Und meint nach einigem Nachdenken: „Nein, ich bin immer weniger Charlie!“ Weil er nicht möchte, dass Meinungsfreiheit bedeutet, andere – und sei es nur mit dem Stift – anzugreifen und etwas, was ihnen heilig ist, zu verhöhnen oder zu verunglimpfen.

Ich hab Hardy’s Gedanken mit großem Interesse gelesen. Das ist etwas, worüber wir uns einen Kopf machen sollten. Und da Hardy keinen eigenen Blog hat, wird sein Text nun bei mir veröffentlicht. Kommentare wie immer willkommen :)

 

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Bild von Sarah McIntyre – originally tweeted as jabberworks

Bin ich wirklich Charlie?

Von der Freiheit der Karikatur

Gastbeitrag von Hardy

Ich habe in den letzten Tagen im Zuge der Ereignisse in Frankreich viel gesehen, was im Namen der Freiheit gepostet und aus Solidarität zu Charlie Hebdo (jetzt erst recht!) veröffentlicht wurde. Es macht mich sehr nachdenklich! Ich finde schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit „die freie Welt“ viele Hundert Millionen Menschen in ihren Gefühlen beleidigt (oder das zumindest billigend in Kauf nimmt), wie sie sich zornig, empört, selbstgerecht und arrogant über ihren Glauben und ihre Traditionen lustig macht.

Darf man eine so große Gruppe Menschen so pauschal zusammenfassen und mit einem Federstrich abwatschen? Ist es gerechtfertigt, einen nicht unerheblichen Teil der Weltbevölkerung ausschließlich über ihren Glauben zu definieren und zu beurteilen? Klar, das ist auch in anderen Zusammenhängen in den freien Gesellschaften gängige Praxis – dort, wo sich Dummheit, Phobie und Intoleranz (übrigens alles Merkmale der Unfreiheit) gegen eine Gruppe / Minderheit wenden (z.B. Homosexuelle). Ist das legitim, weil es unter diesen vielen Hundert Millionen gefährliche Wirrköpfe gibt, die eine Religion für ihre weltlichen Interessen bis zur Unkenntlichkeit verbiegen und mordend im Namen ihres Gottes durch die Welt ziehen? Darf man so handeln, selbst wenn die überwiegende Mehrheit der Muslime das genauso verkackt findet wie wir – ohne dabei jedoch grundsätzlich am Wert ihrer Religion zu zweifeln? Wäre hier nicht sinnvoller, sich um ein „Bündnis der Freiheit“ über Religionen und Weltanschauungen hinweg zu bemühen, statt den Spaltkeil des Spotts und der Provokation an die Schnittstelle zu setzen?

Religionen werden seit jeher instrumentalisiert

Religionen sind nicht pauschal schlecht oder gut. Sie teilen dasselbe Schicksal mit anderen „Unterscheidungsmerkmalen“ (Herkunft, Ethnie, Hautfarbe, Sexualverhalten, Bildung, Geschlecht, soz. Status usw.): dass einzelne Menschen, Organisationen, Staaten, politische Systeme sie instrumentalisieren, um ihre Anliegen (Machterweiterung, Eroberung, Ausbeutung, Unterdrückung, Wertemission usw.) zu rechtfertigen oder umzusetzen. Für derartige Vorhaben braucht es immer eine Masse Mensch im Gleichschritt der Überzeugungen, in ideologischer Uniform, mit einem gemeinsamen Schlachtruf, der mit Herzblut vertreten wird. Religionen eignen sich dafür hervorragend! Kein Wunder also, dass sich immer genügend Menschen finden, die den Stechschritt mitmachen, in der Uniform aufgehen, die Parolen auswendig lernen – und (Herz-)Blut fließen lassen. Das heißt aber nicht, dass diese „Kämpfer für die gerechte Sache“ kompetent über die Inhalte des Glaubens oder die Strategien im Gesamtzusammenhang im Bilde wären! Sie sind Handlanger, nicht mehr.

Das funktioniert auf allen Seiten! Was wissen die Terroristen wirklich vom Islam? Und: was wissen wir wirklich vom Islam?

Das Karussell der Geschichte

Die Geschichte ist voller Beispiele, in denen die Völker, Reiche und Führer der Welt Mitläufer und Aktivisten unter (haarsträubend dummen) Ideologien versammeln, um ihr Süppchen zu kochen – das oft genug Andere auslöffeln müssen. Deutsche sind im 20. Jahrhundert zweimal aufgebrochen, um die (Welt-)Herrschaft zu erringen. Auf ihren Koppelschlössern stand in beiden Kriegen „Gott mit uns“. Auch in unserem Land haben gläubige Menschen, die es besser hätten wissen müssen, weggeschaut, sind geblendet mitgelaufen oder haben die Bewegung gar kräftig angeheizt. Das Ergebnis waren über 70 Mio. Tote zwischen 1914 und 1945 – und verwüstete Länder. Diese Kriege waren so unheilig wie alle, die aus niederen Beweggründen angezettelt werden. Sie haben keine religiösen Ursachen! Weder in Nordirland, noch in Bosnien oder Sri Lanka – you name it.

Mit einigem Abstand offenbart sich dem Betrachter immer dasselbe Bild: jeder (heilige) Krieg beginnt mit Lügen, gezielter Beeinflussung, Diffamierungen und schlimmer Pauschalisierung, um Menschen für ihn zu gewinnen. Das klappt auf allen Seiten, unabhängig vom Glauben, von Nationalität oder Gesellschaftsordnung. Laufen wir nicht Gefahr, denselben Mechanismen auf den Leim zu gehen?

Sören Kierkegaard sagt: das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Ich füge hinzu: wer im Rückwärtsblick etwas verstanden hat, kann (nein: MUSS!) im Vorwärtsleben anders handeln, statt sich besoffen zu drehen auf dem ewigen Karussell der Geschichte!

Wir sollten uns genauso wenig hinter menschenverachtenden Karikaturen und abendländischen Wutparolen versammeln, wie die Gläubigen des Islams unter schwarzen oder grünen Fahnen des Hasses und der Gewalt. Nicht nur die Anderen betreiben Eskalation und Polarisierung – auch wir. Wir sollten dabei nicht in dieselben sinnlosen Rechtfertigungsdiskussionen verfallen, wie Schüler aufm Schulhof: „DER hat aber angefangen!“ Schlechte Karikaturen bleiben schlecht, auch und gerade, wenn sie dem Zorn und der Menschenverachtung entspringen.

Zur Frage: „Bin ich Charlie?“

Nein, ich bin immer weniger Charlie! Es wird mir unter dieser Parole (genau wie montags auf der Straße) zu viel in einen Topf geworfen. „Ja!“ zu Meinungsfreiheit. „Ja!“ zu „nicht-kuschen-vor-Einschüchterung“. Aber entschieden „Nein!“ zu einem pauschalen „jetzt erst recht!“ und zu einem Wettkampf der bissigen Karikaturen. Ich weiß, Differenzierungen sind nicht leicht und haben immer den Beigeschmack des Spaltertums! Aber wenn wir eines nicht brauchen, dann ist es pauschale Aggression und blinde Diffamierung.

Nichts gegen ein „gutes“ Satiremagazin…. ich kannte Charlie bis dato nicht und kann die Arbeit gar nicht beurteilen. Hätte ichs gekannt, hätte ich wahrscheinlich die Karikaturen gegen Muslime nicht beklatscht. Die eigenen Politiker und Systeme aufs Korn zu nehmen, vor der eigenen Haustür zu kehren, das ist eine andere Liga! Auch nach den Anschlägen in Paris kann und will ich manche Zeichnung einfach nicht prima finden, nicht mal aus Solidarität! Ich schließe mich einer Französin an, die vorgestern auf N24 sinngemäß sagte (und gut, dass SIE es gesagt hat): Charlie Hebdo hat manchmal wirklich tolle Sachen gebracht – aber das darf man nun unter dem Eindruck der Ereignisse nicht idealisieren. Eine ganze Menge davon war auch ziemlich platt und stumpf.

Yepp! „Hau rein in die Kerbe“ ist eben nicht unbedingt eine Fackel der Freiheit und auch kein Merkmal guten Journalismus´! Jetzt eine Flut von Karikaturen und „freier Meinungsäußerung“ der abfälligsten Art zu bringen, um zu demonstrieren, wie frei und mutig wir sind, mutet bockig, kindisch, maßlos an. Der Kollateralschaden (ich nutze diesen Begriff an dieser Stelle ganz bewusst!) ist mir einfach zu groß! Zorn und Entsetzen lässt uns leicht denselben Fehler machen, den wir den Menschen auf der Straße zwischen Dresden und Darfur, zwischen Köln und Kirkuk machen: blind aufzugehen in einer diffusen Masse, falschen Propheten hinterher zu laufen und richtig dumme Dinge zu tun und zu rufen!

Von der Freiheit der Karikatur

Satire und Humor sind immer dem individuellen Urteil unterworfen. Ob etwas witzig, treffend oder geschmacklos ist, dazu gibt es – erFREIlicherweise – mehr als eine Ansicht. Und nicht immer werden vergleichbare Vorgänge gleich bewertet: würde eine pauschale und gesellschaftlich breit akzeptierte Verunglimpfung z.B. gegenüber dem Judentum erfolgen, wäre das antisemitisch und man müsste sich den Vorwurf der Volksverhetzung gefallen lassen. Hier haben wir aus der Geschichte gelernt. Daher braucht es quasi in diesem Fall nur noch eine „Transfairleistung“.

Ich habe übrigens nichts gegen Karikaturen, die auf die Dummheit und die Intoleranz des Terrors und seiner Handlanger zielen. Aber warum muss es „der Arsch des Propheten“ sein, eine Verspottung betender Muslime – und das Bedienen ewig gleicher (und größtenteils falscher) Vorurteile über Muslime und ihre Kultur? Wem dient das? Ich denke, es radikalisiert. Wasser auf die Mühlen der blöden bei uns – und der Blöden in muslimischen Kulturen. Wir schaffen eine Kluft, die uns von Menschen trennt, die eigentlich genau wie wir gegen Terror und Unfrieden sind. Muss man in diese Kerbe hauen, um freie Meinungsäußerung zu demonstrieren? Auch in muslimischen Kulturen wissen zwar die Wachen, Offenen und Interessierten genau, dass nicht alle im Westen ihre „Feinde“ sind – aber die Masse ist eben (wie bei uns) eher kurzschlussgefährdet.

Im Land der Steuerflüchtlinge und Geizgeilen darf man noch immer behaupten, Menschen mit Migrationshintergrund seien in der Mehrheit Sozialbetrüger und auch Flüchtlinge kämen nur, um in die Kassen zu greifen oder unser „christliches Abendland“ kaputt zu machen. Wie sonst käme es zu Pediga? Für viele wichtige, gesellschaftspolitische, soziale, ökologische Themen kriegst du keine Sau mehr auf die Straße, um Missstand zu beklagen und Veränderung zu fordern. Doch für ein christliches (!) Abendland wabert allmontaglich ein Teil des Volks durch die feuchtkalten Straßen, statt aufm Sofa zu sitzen?! Erstaunlich!

Rassismus bleibt Rassismus, auch wenn man meint, gute Gründe zu haben. Er fängt klein an und nutzt geschickt viele Deckmäntelchen, um sich eine Stimmung zunutze machen, um Ideologien zu verbreiten, Angst zu schüren, aufzuhetzen oder wehzutun. Auch schlimme, verabscheuungswürdige Anschlägen machen ihn für mich nicht hoffähig. Rassismus und Respektlosigkeit sind immer daneben, auch in Form einer Karikatur. Und komplexe Probleme löst er schon gleich gar nicht!

Danke fürs geduldige Lesen!

5 Responses

  1. Vielen Dank für Deinen Artikel zu Charlie.
    Eine Streitkultur ist schon im eigenen Land nicht einfach.
    Da muss man wohl verdammt gut sein, will man eine solche
    unter verschiedenen kulturellen Hintergründen pflegen.
    Andererseits muss Kunst nicht diplomatisch sein.
    Wieder andererseits: wenn man weiß, dass der andere keinen
    Spaß versteht, nimmt man da nicht Rücksicht?
    Respekt steht doch immer an oberster Stelle-oder?

  2. gefühlvoll durchargumentiert. nur: man muss nicht charly sein, um anderen leuten das recht zugestehen, etwas zu zeichnen.

    zum posting von ute: nein, respekt steht nicht an oberster stelle, denn in einer offenen gesellschaft hat man das recht auf wahl: auf respekt oder respektlosigkeit. und darauf, ein satiremagazin zu kaufen oder nicht.

  3. lieber Hansjörg, eine offene gesellschaft, wie auch offene einzelperson, haben nach meinem wissen keine wahl. wenn ich mich zwischen negativ und positiv bewege, das heißt zwischen zwei extremen, ist das nicht offen. solange ich denke ich könne mir ein urteil über andere erlauben, und es ist mir nicht vollkommen klar aus welchem grunde ich so denke wie ich denke und also spreche und handle, bin ich alles andere als offen. und eben aus diesem grunde urteile ich. denn jeder mensch steht auf der richtigen, sagen wir auf der positiven seite, wenn man ihn fragt. ich frage mich, gibt es denn überhaupt eine negative seite~ im ernst~ niemand scheint sie bei sich selbst zu sehen, sondern immer nur im anderen.

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