Mittwoch, 1. Januar 2020

Die Goldene 20

So, es gibt einen neuen Blog, der vielleicht sogar ein klein wenig Ähnlichkeit mit diesem Projekt hat. Allerdings reisen wir nicht gemeinsam ins Jahr 1952, sondern in das Jahr 1970. 

Also - viel Spaß mit Die Goldene 20!










Freitag, 1. Dezember 2017

Z05 - Zeit - Allerletzter Post




Zeit. Ich habe dieses Lemma absichtlich an das Ende gestellt. Ja, jetzt ist es endgültig vorbei. Es waren insgesamt etwas mehr als fünf Jahre (weil die Veröffentlichung zuerst anderswo ein Jahr früher war). Und ja, es hat Spaß gemacht. Und ja, es ist gut, daß es vorbei ist.
Das Schreiben war immer sehr, sehr einfach. Wenn es nicht einfach war, sondern schwierig wurde, habe ich die Illustration einfach weggetan. Das kam ungefähr zehnmal vor, also eine Quote von unter 5%. Manchmal ganz merkwürdig, wozu mir alles nichts eingefallen ist, andererseits hat es mich genau so überrascht, zu wie vielen Sachen mir doch etwas eingefallen ist.
Und es ist auch gut so, jetzt bei Z angekommen zu sein. Diese Art, Geschichten zu erzählen, ist naturgemäß endlich. Ich habe für euch nicht mehr zwanzig Kinderweihnachten, und auch nicht mehr viele Geschichten über Spielzeugburgen, Kicken im Garten, abebrochene Türklinken undsoweiter. Ursprünglich war das Projekt überhaupt nicht so autobiographisch geplant, wie es dann später wurde. Es ist einfach so passiert, weil mir – vielleicht ein Erbe des Ruhrgebiets – zu vielen allgemeinen Sachen dann doch ein privates Gedöns einfällt.
Ganz am Anfang habe ich sogar noch pseudonymisiert, dann aber (auch in der hier lesbaren Version) die echten Namen benutzt, als ich feststellte, daß die Leute das sogar mochten. Oder es sie zumindest nicht störte. Bis auf eine einzige Ausnahme, es gibt ein Lemma, bei dem alle Namen ausgetauscht wurden, aber ich verrate nicht, welches.
Dies alles hätte es nicht gegeben, wenn nicht mein Vater mir vor vielen Jahren den Brockhaus geschenkt hätte. Meine Eltern hatten ihn gekauft, da waren sie noch ganz jung, oder noch gar nicht verheiratet. Dann kam meine Schwester, und ich erst fünf Jahre später, und so bin ein wenig aus der Brockhaus-Zeit herausgefallen.

Zeit von der Fa. Habmann, aus dem Nachlaß meines Vaters
Dabei ist es nicht so einfach, die (eigene) Lebenszeit von der (allgemeinen) Weltzeit zu trennen, wenn man das Gefühl für ein Zeitalter beschreiben will. So kommen mir die Siebziger unendlich naiv und verspielt vor, aber allein deshalb, weil ich dort selbst fünf bis fünfzehn Jahre alt war, naiv und verspielt. Zuerst hatte ich gedacht, der Brockhaus sei aus der ganz falschen Zeit, weil einfach zu alt und vor meiner Zeit.. Dann aber stellte ich fest, wie viele, längst verglühte Sachen aus dem Brockhaus und der Brockhaus-Zeit mir noch geläufig waren. Münzfernsprecher. Erwachsene Männer, die Hüte tragen. Kurzwarenabteilungen in Warenhäusern. Hosenträger. Es ist eine ganz merkwürdiges Gefühl, ein so großen Teil der Gegenwart miterlebt zu haben, auch wenn es ein gemischtes Gefühl ist, denn es natürlich auch eine Begleiterscheinung des Alterns. Alter ist aufgeschichtete Zeit.
Die Illustrationen des Brockhaus-Blog waren eine ganz merkwürdige Auswahl aus dem Bestand der Welt. Naturgemäß waren es viel öfter konkrete Dinge als Abstrakta. Und diese physischen Sachen teilten sich auf, in natürliche Dinge und von Menschen Geschaffenes, wobei die natürlichen Dinge sich eher weniger verändern, aber unser Umgang mit ihnen. Eine Ananas 1952 ist nichts anderes als eine Ananas 2017. Aber 1970 kannte ich Ananas nur aus der Dose. In jenem Jahr im K-Markt oder im Coop in Dortmund-Lichtendorf eine Ananas kaufen? Nicht wirklich.
Spaß, als Stichwort. Oh ja, bisweilen hab ich mich in regelrechte Begeisterung geschrieben und auch Sachen nachgekauft, wie beim Mosse-Code (T7) oder die Stube-Küchenwaage (W1). Hauptsache, ich konnte ausführlich vom eigentlichen Thema abschweifen und über etwas Interessantes herumschwadronieren. Achja, ein Grundprinzip des Blogs ist auch immer gleich geblieben. Es gab keine Links. Auch das hat sich so ergeben, in ganz frühen Versionen der ersten Posts gab es sogar noch welche. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dieses Grundprinzip des Netzes hier gerade nicht anzuwenden. Gerade weil ein Lexikon auch ein Verweissystem ganz eigener Struktur ist. Imaginäre Links sozusagen.
Und zuletzt, natürlich, noch ein Wort zu euch Lesern. Ich weiß, es gibt eine Handvoll Stammleser (die ich auch meistenteils persönlich kenne), und viele zufällige oder gelegentliche Leser, die das Internet hierhin geweht hat. Wie auch immer: ich hab es nicht nur für mich, sondern vor allem auch gerne für euch geschrieben. Und ich hoffe, ihr habt es vielleicht gerne gelesen.
Und ebenfalls hoffe ich, daß ihr mich auf www.privileg270t.de besuchen werdet. Dort ist aber alles total ernst. Fast alles.
So, jetzt. Jedes Ende hat seine Zeit.

Freitag, 24. November 2017

Z17 -. Zwiebel, Zylinder etc. – Vorletzter Post



Zwiebeln. Zwiebeln braucht man immer. Überlegt mal, wie viele Rezepte Ihr so auf Lager habt, und wie viele ohne Zwiebel auskommen. Eben. Die Zwiebel ist der Innenverteidiger der Gemüsen. Sie wird IMMER gebraucht. Und nicht gerade wenige Gerichte, die sozusagen hauptsächlich auf der Zwiebel ruhen. Wie zum Beispiel mein Gulasch, das eigentlich eher ein Pfeffer Potthast ist und wahnsinnig viel Zwiebel braucht, und Zeit. Die Hartnäckigkeit der Zwiebel erkennt man schon daran, daß sie seit 5.000 Jahren kultiviert wird. Damit ihr das auch richtig kapiert: als Jesus in die Windeln gemacht hat, da war die Zwiebel schon 3000 Jahre im Einsatz. Zu ägyptischen Zeiten diente sie als Zahlungsmittel – der Bau der Pyramiden wurde mit Zwiebeln bezahlt. Verblüffend! Und Schnuckies, bald ist ja Schluß hier, das ist der VORLETZTE POST heute, aber so leicht werdet ihr mich nicht los. Und im neuen Blog, das sei schon einmal verraten, wird es sehr viel um SUPPE gehen. Ja, werde Foodblogger, aber bis es so weit ist, mache ich noch ein wenig Fashion Blogging:
Zylinder. Der Zylinder ist ungefähr um 1820 so richtig modisch und beherrschte den Rest des 19. Jahrhunderts. Ich habe Hüte generell, nicht nur den Zylinder, stets für eine Fehlevolution der Kopfbedeckungen gehalten und nie einen besessen. Erstens hält er nicht warm. Zweitens fliegt er leicht weg. Und dann muß man ihn auch irgendwo hinlegen, auf die Hutablage. Bevor ich Hüte aber generell und für immer schlecht mache, gibt es eine große Ausnahme bei den Hutträgern: das ist Ericas Vater. Der ist jeden Morgen aus dem Haus gegangen, mit einem grauen Hut, durch halb Ostwestfalen gewandert und wieder zurückgekommen. Leider ist er vor Jahren gestorben. Aber ihr wißt, was in Ericas Elternhaus auf der Hutablage liegt? Genau. Dieser Mann konnte Hut. Wir können es eher nicht.
Zwieback. Hä, Einback? Habt ihr davon mal gehört? Nie gehört, nie gesehen. Wobei mir peinlicherweise auch jetzt erst auffällt, daß Zwieback zweifach gebacken bedeutet. Und wo es Zweiback gibt, da muß es auch Einback geben. Einback ist aber keinesfalls ein halb fabrizierter Zwieback, sondern wird eigenständig verkauft und verputzt. Warum weiß ich das alles nicht? Warum stellt sich nach fünf Jahren Brockhaus-Blog heraus, daß ich von den einfachsten und einbacksten Sachen keine Ahnung habe? Aber noch ein Wort zu Schiffszwieback: davon habe ich immer in maritimen Romanen gelesen. Obwohl der Schiffszwieback da nicht wegkommt: er sei hart, und bröckelig. Aber hey, würde es im PENNY-Markt Schiffszwieback geben, ich wäre SOFORT dabei. Schiffszwieback!
Wißt ihr was? Ich werde etwas rührselig. Es ist schade, dass es hier vorbei ist. Es ist natürlich auch gut so,  denn es hatte seine Zeit, und die ist vorbei. Aber: ich werde das hier vermissen. Echt.

Freitag, 17. November 2017

Z13 - Zirkel, Zitrone - Drittletzter Post



Zirkel. Diesen alten Zirkelkasten der Fa. Riefler hab ich von meinem Vater geschenkt bekommen. Neben dem normalen Bleistifteinsatz gab es auch Aufsätze für Tusche. Ich hab das dann auch ausprobiert, man hatte ja Tusche auch für den Kunstunterricht. Das war aber nur eine riesige Sauerei.





Der Nullenzirkel ist übrigens ein Zirkel mit Feder und einer verstellbaren Achse. Man kann damit Kreise mit Durchmesser von 0,1mm bis 15mm zeichnen. Erfunden hat ihn 1874 Emil Oskar Richter, der später mit der Firma Richter-Reißzeug in Chemnitz extrem erfolgreich wurde. Später wurde daraus die VEB Polytechnik in Karl-Marx-Stadt, die tatsächlich den einzigen Arcade-Spielautomaten der DDR baute, den Polyplay, ein Pacman-Klon. Später ist sie dann in der Wiedervereinigung verglüht.

Zitrone. Die Zitrone kommt natürlich aus Italien. Die Medici liebten die Zitrone ganz besonders und haben im 16. Jahrhundert in der Villa Medici de Castello in Florenz einen Zitrusfrüchtegarten angelegt, der noch heute existiert. In dieser Zeit sind die Zitrusfrüchte auch in die italienische Küche gesickert. Etwa nach Rom, zum berühmtesten Koch der Renaissance, den Lombarden Bartolemeo Scappi. Er hat über vierzig Jahre lang für sechs Päpste gekocht, mochte allerdings keine Zitronen und hat immer nur Apfelsinen benutzt, wie seinem 1570 erschienenen Kochbuch „Opera“ zu entnehmen ist.

Gegenwart: Julia hat einen Zitronenbaum. Sie schreibt mich an: „Ich bin mir nicht sicher, ob Du weißt, dass wir ein Zitronenbäumchen haben. An diesem Bäumchen wächst seit 2 Jahren eine Zitrone, die immer schöner geworden ist. Cornelius möchte sie nun bald ernten. Mäxchen auch. Und Klara sowieso. Man kann nun aber nicht einfach zum Bäumchen laufen, die Zitrone abreißen, aufschneiden und in den Tee drücken.“ Und hier das Foto von Julias zweijähriger Zitrone, umlauert von drei zitronengierigen Kindern und einem Königspudel:









Ob ich denn vielleicht ein zitroniges Rezept zur Hand hätte? Ich habe allerdings überhaupt keine Ahnung von der Zitronenküche. Aber schließlich bin ich ein Erbe des ersten Fernsehkochs Clemens Wilmenrod (schaut doch mal, eine der ersten Einträge im Blog, A16). Wilmenrod erfand mit Karl-May-Phantasie die dollsten Geschichten um seine Rezepte. Unvergessen, wie er eine Schwäbische Hackfleischpfanne mit Meerrettich in sein Arabisches Reiterfleisch verwandelte, mit dazugelogenen Geschichten über Kamelreiter am Lagerfeuer.

Aber natürlich hätte ich ein ganz wunderbares Rezept mit Zitronen, antworte ich Julia säuselnd, nämlich den herrlichen Lombardischen Zitronenbraten. Das sei ein uraltes Rezept aus der Renaissance-Küche, vom berühmten Kochgenie Bartoleomeo Scappi, der für sechs Päpste gekocht hat. Eigentlich sogar für sieben, aber Papst Marcellus II. starb schon nach 22 Tagen Amtszeit, ohne bei ihm ein Zigeunerschnitzel bestellt zu haben. Und gerne würde ich ihnen diesen berühmten Braten mit ihrer Zitrone zubereiten. Julia antwortet: Gerne, sie sei gespannt!

So, und dann muß ich also liefern. Natürlich gibt es keinen Lombardischen Zitronenbraten. Ich werde ihn erfinden müssen. Im Internet wird man ja bei der Kochrecherche stets auf die Seite chefkoch.de geleitet. Auf die Seite mit den schlechtesten Essensfotografen der Welt. Bei der Hälfte der Braten befürchtet man, das Tier lebt noch, und die Zitronensaucen sehen aus wie Wandfarbe. Nein. Ich werde etwas selbst erfinden müssen. Ich entscheide mich für einen Schweinebraten. Im Backofen in einem Topf mit Gemüse geschmort. Knoblauch muß natürlich sein, und die Zitronenscheiben werden daraufgelegt. Die geriebene Schale in die Brühe und daraus am Ende eine Soße andicken. Zwischendurch bekomme ich dann etwas Bedenken, es könnte total schiefgehen. Julia und die Kinder züchten zwei Jahre EINE EINZIGE Zitrone, und ich mache daraus ein Matschessen? Die kleine Klara (5), Mäxchen (13), Cornelius (fast 11) sitzen weinend vor ihren Tellern, sie mögen das nicht, sie möchten lieber Nudeln mit Ketchup? Nein, das darf nicht sein! Es muß gut werden. Ich recherchiere weiter. Strategisch entscheidend ist die Flüssigkeit im Schmortopf. Etwas Weißwein oder Apfelsaft in die Brühe, um den Zitronen zu helfen. Ja, gute Idee. Rosmarin? Vielleicht.



Und dann ist der große Tag gekommen. Wir lutschen Zitronenbonbons, die Kinder schneiden Zwiebeln und heulen, und ich würze den Braten mit meiner gewürztechnischen Geheimwaffe.
 „Sag mal, hatte dieser Bartolemeo Scappi vor vierhundert Jahren auch schon Brathähnchen-Gewürzsalz?“
„Gewiß. Brathähnchen-Gewürzsalz gibt es seit der Bronzezeit.“


Der Lombardische Zitronenbraten ist eines dieser schönen Rezepte, bei denen man erst eine halbe Stunde Arbeit und Streß hat, aber dann muß der Ofen lange seine Arbeit tun, und das macht er dann auch. Und dann wird es tatsächlich lecker. Wirklich. Selbst das Klärchen will noch einmal Nachschlag. Anschließend gibt es eine tolle Zitronen-Mousse, die das Mäxchen gemacht hat. Ein chilenisches Rezept, berichten sie, mit Dosenmilch. Chilenen seien nämlich absolut versessen auf Dosenmilch, und die gesamte chilenische Küche würde auf Dosenmilch beruhen. Oh, das wußte ich ich noch gar nicht. Auf der Rückfahrt fällt mir aber ein: da haben sie mich wilmenrod-mäßig verkohlt! Dosenmilchsaufende Chilenen, das gibt’s doch gar nicht.



---

Und vor der feierlichen Ernte der Zitrone (Cornelius schnitt sie mit einer Schere vom Baum, Klärchen hielt ein Tablett darunter) hatte Mäxchen eine Rede über Zitronen geschrieben und gehalten. Sie schlug einen weiten Bogen vom Gestaltzerfall beim Zitrone-Sagen über Zitroneneisessen bis hin zu Zitronenträumen, und dann schloß sie mit den Worten:

 
„Aber am Ende bedeutet alles für uns etwas anderes, und so ist das auch bei der Zitrone.“


Ja, da hat das Mädchen verdammt recht.











Freitag, 10. November 2017

Z12 – Zirkus – Viertletzter Post



Zirkus. Der hier abgebildete Zeltzirkus ist eine recht junge Erfindung, die erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Vorher war man darauf angewiesen, geeignete Häuser zu mieten, was natürlich schwierig war. Außerdem wurde die Transportlogistik besser. Und die Zelte (der alphabetische Zufall bindet Zelt in der letzten Lieferung an den Zirkus) wurden nahezu ausschließlich von einem einzigen Hersteller zusammengenäht, der Firma Stromeyer, die es in Radolfzell am Bodensee immer noch gibt.
 
Als Blütezeit des Zirkus gilt das erste Drittel des letzten Jahrhunderts. In den Fünfzigern setzte ein sehr langsames, aber unaufhaltsames Sterben ein. Zirkusse sind Familienunternehmen. Insofern wundert mich die Wikipedia-Zahl, daß heute noch 300 Zirkusunternehmen durch das Land reisen. Erstaunlich. Und dann knüpfen sie ihre Reklame an jedem Zaun. Übrigens weit gefehlt, das geschehe anarchistisch oder einfach so. Für Berlin gilt etwa: „Beim Aufstellen von Zirkuswerbetafeln (max. DIN A0) auf dem öffentlichen Straßenland handelt es sich um eine Straßenlandsondernutzung. Der Zirkus ist verpflichtet, eine Sondernutzungserlaubnis zu beantragen.“

Übrigens hat praktisch kein Zirkus eine Webseite. Es ist sozusagen analoge Unterhaltung. Man kann die Darbietungen strukturieren: a) Artistik b) Dressur c) Clown. Als Kind habe ich die Serie Salto Mortale geguckt, die ich übrigens ziemlich langweilig fand. Dort ging es eigentlich nur um diese Trapezgeschichten. Der Chef der Trapeztruppe war Gustav Knuth. Dazu fällt mir ein, daß Gustav Knuth ein hundertprozentiger Garant für langweilige Filme, Serien, Sendungen war. Ein Salto Mortale war ein dreifacher Salto, und den konnte nur Hans-Jürgen-Bäumler. Da fällt mir auf, der Bäumler hat ja eigentlich nur die Drehrichtung geändert, beim Eiskunstlauf ist er um die Längsachse gedreht, und beim Salto Mortale jetzt um die Querachse. In den Fünfzigern gab es auch schon Dreifachsprünge bei den Herren bei Olympischen Spielen, aber der Bäumler hat das nicht hinbekommen, denke ich. Der hat eher die Marika Kilius durch die Gegend geworfen. Bei Salto Mortale konnte er aber dann seine Dreifach-Fantasien zumindest in der Rolle ausleben. Salto Mortale statt Salchow Mortale, sozusagen.

Eigentlich denkt man ja, der Flieger hat den schwierigen Job, aber das stimmt gar nicht, entscheidend ist der Fänger, der kopfüber am anderen Trapez hängt usw. usw. usw. Zumal ich auch erst viel später kapiert habe, daß die Schwingungsdauer des Trapez nur von seiner Länge abhängt, also gleich lange Trapeze in exakt in der gleichen Frequenz schwingen.

Noch langweiliger als die Artisten waren die Dressurnummern. Mich beeindruckte es kein bißchen, wenn drei Tiger auf drei Setzstücken (das Wort kommt aus der Illustration hier!) sitzen oder über eine Wippe laufen. Ich fand es einfach unbeeindruckend, wenn Tiere etwas konnten, das jeder Dreijährige auch könnte.

Den Clown hingegen fand ich schon als Kind albern und wenig witzig. Mir schien es unlogisch, einfach eine blöde Idee, den witzigen Mann bunt anzumalen, in zu große Schuhe zu stecken und dann sollte es lustig sein. Ich hatte nie eine Coulrophobie (den Begriff gibt es wirklich!), aber sie sind einfach nicht witzig. Mittlerweile gibt es ja hauptsächlich therapeutische Clowns, die den Versehrten, Gezeichneten und Hoffnungslosen ein Lächeln auf das Gesicht zaubern sollen. Es gibt sogar ein Institut für Clownpädagogik: „Dieses Seminar richtet sich an fortgeschrittene Clowns, die eine ClownBasis Fortbildung im ClownWerk oder auch eine vergleichbare Clownfortbildung absolviert haben.“ Nun, die kennen wir ja alle, die Leute mit vergleichbarer Clownfortbildung.

Aber ihr merkt schon: ich bin nicht gerade Freund Nr. 1 des Zirkus. Als ich sehr, sehr klein war, gastierte einmal ein Zirkus in unserem Vorort. Ich zermartere mir das Hirn, wo er das Zelt aufgeschlagen hat. Es könnte auf der Wiese hinter der Kirche gewesen sein. Aber war das nicht viel zu klein? Oder unten an der Grundschule, wo später der Kindergarten hingekommen ist. Ich weiß es einfach nicht mehr. Bestimmt war ich noch nicht in der Schule. Ich bin mit meiner Schwester hingegangen. Es gab kein Trapez. Dafür war der Zirkus viel zu klein. Es gab auch keine Raubkatzen, das wäre viel zu gefährlich geworden. Ich glaube mich an einen alten Bären erinnern zu können. Und natürlich gab es einen Clown, denn ohne Clown, da geht es im Zirkus nicht. Aber toll habe ich es nicht gefunden. Außerdem hat es draußen nach Tieren gerochen.

Donnerstag, 2. November 2017

Z08 - Zelt







Zelt. Ich bin in einem Nichtzelt-Haushalt aufgewachsen. Weder haben wir jemals Zelturlaub gemacht noch besaßen wir überhaupt ein Zelt. Wenn ich ehrlich bin – ich denke auch nicht, allzu viel verpaßt zu haben. Irgendwie ist mir der feste Raum doch sehr viel lieber, auch und gerade in Ferienzeiten. So hat es lange gedauert, bis ich überhaupt zum Zelten kam; ich glaube fast, es war fast der Klassenausflug zum Halterner Stauseee, in der achten Klasse, im Sommer 1978.



Die Kinder aus Zelt-Haushalten hatten dann natürlich ein eigenes Zelt mitgenommen und konnten dann noch ein Nichtzeltkind in ihr Zelt einladen. Ich war weder ein Zeltkind noch war ich mit einem Zeltkind so dicke, für vier Tage eingeladen zu werden. Für uns Zeltwaisen war dann ein großes, weißes Gemeinschaftszelt vorgesehen, das man sich von der Kirchengemeinde geliehen hatte (Kirchen haben so etwas einfach). Wir schliefen darin zu acht oder neunt, was natürlich auch lustiger war als in einem puritanischen Besitzzelt. Wir hatten auch nicht so spießige Regeln wie Schuheausziehen oder so etwas. Andererseits war es genau so albern wie man sich das unter Vierzehnjährigen vorstellt. Furzwettbewerbe. Rülpswettbewerbe.



Und noch viel schlimmer. In Frühjahr dieses Jahres war „Roots“ zum erstenmal im deutschen Fernsehen gelaufen. Mit argen Folgen für unser kindliches Gemüt. Nein, wir waren vom Schicksal des entführten Sklaven Kunta Kinte nicht ergriffen und beeindruckt. Nein, es war ganz anders. Wir beschimpften uns gegenseitig als „Nigger“ und ernannten uns selbst zum Massa. Wenn man jemanden im Schwitzkasten hatte, brüllte man ihm ins Ohr: „Wer ist ein Nigger?“ „Hmmff, ich“ „Und wer ist dein Massa?“ „Pfff, du.“ Ja, das war alles nicht richtig, sondern fürchterlich. Nigger & Massa hatten in Windeseile die bisher führende Schmähung als „Mongo“ abgelöst, die wiederum durch eine Serie, nämlich „Unser Walter“ einige Jahre vorher den Weg auf die Schulhöfe gefunden hatte. Ja, wir waren super, wir waren auf dem besten Weg zur Hochschulreife. Es war uns eigentlich klar, daß wir schon zu alt waren für solchen Quatsch. Aber irgendwann hatte jemand damit angefangen, und dann war es vorbei mit Anstand und Charakter und wir ließen unsere kleine rassistische Sau heraus. Viele Jahre später befragt, behauptete jeder zwar, sich daran erinnern zu können, aber selbst eigentlich gar nicht mitgemacht zu haben.



Natürlich habe ich eigentlich auch nicht mitgemacht. Ich glaube, ich habe keine einzige Folge „Roots“ gesehen, übrigens. Wenn die Eltern etwas nicht geguckt haben, dann hat man das selbst auch nicht gesehen (für heutige Kinder wohl sehr seltsam – Eltern gucken nicht „13 Reasons Why“, ja und?). Höchstens einmal, wenn es WIRKLICH wichtige Sachen ging, z.B. Adventsvierteiler, dann konnte man mitentscheiden. Aber doch nicht bei „Roots“.



Wir fuhren also auf unseren Rädern die 45km von Dortmund nach Haltern. Zwischendurch gab es eine Badepause, keine Ahnung heute mehr, welches Gewässer das gewesen ist. Achja, ich denke, ein Foto kann ich noch ohne Namensnennung posten, zumal kaum Gesichter zu erkennen sind. Ich bin übrigens nicht drauf. Rote T-Shirts waren im Sommer 1978 übrigens der heiße Scheiß. Ich glaube, die kommen bald einmal wieder.

Badepause auf dem Weg nach Haltern





Dann wurden die Zelte aufgebaut. Nachdem die Zeltkinder ihre eigenen Zelte in zwanzig Sekunden aufgebaut hatten, halfen sie uns Benachteiligten (den Zeltniggern, sozusagen) beim Aufbau der Kirchenzelte. Ich bekam einen Platz links neben dem Eingang und pumpte meine Luftmatratze auf. Es hat sich ein Foto überliefert aus jenen Tagen. Ich bin der Junge unten mit dem roten T-Shirt (na klar!). Neben mir, mit der ZACK-Kappe, ist Ricardo, der spanische Austauschschüler. Nachdem ich endlich zuende gepumpt hatte, spielten wir Fußball auf einem Sandplatz, was super war.


 

Ricardo, ich, und das Kirchenzelt (und andere)



Die halbe Nacht haben wir danach damit zugebracht, um hintereinander herzuschleichen. Ich denke, heutzutage ist das mit 14 entspannter, aber zu jener Zeit war das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen noch sehr komplex. Es war nicht so wie mit elf oder zwölf, als man mit keinem Mädchen sprechen konnte, ohne als „Weiberheld“ verspottet zu werden. Nein, man konnte schon durchaus mit Mädchen sprechen. Einige hatten sogar schon „Erfahrungen“, wobei sich diese halb ausgedachten, halb erfundenen Ereignisse auf sogenannten „Feten“ abspielten, auf die ich nicht eingeladen war.



Man konnte Mädchen „gut finden.“ Zu sagen, man sei verliebt, war eher nicht ratsam. Ein Mädchen „gut zu finden“, bedeutete letzthin nichts anderes, aber es klang viel harmlo­ser und unverfänglicher. Gut finden konnte man auch Himbeerbonbons, Wicki oder adidas-Sportschuhe. Würde eventuell mal herauskommen, daß man ein Mädchen gut fand, konnte man noch immer schulterzuckend sagen: „Na und? Ich finde viele Sachen gut!“ Außerdem verband Gutfinden kein explizites Ziel mit dem Zustand. Wenn man verliebt gewesen wäre, hätte man den Gelieb­ten erobern wollen. Gutfinden war etwas, das ohne Zweck oder bestimmtes Ziel passieren konnte. Status Quo und Queen wurden ja auch so ganz ziellos gut gefunden. Und so konnte man – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – auch einem sehr guten Freund erzählen, wen man gut fand. Oder man wurde glatt gefragt: „Und wen findest du gut?“ Ein weiterer Vorteil des Gutfindens gegenüber einer Verliebtheit war auch eine sehr  eingeschränkte Exklusivität. Man konnte drei oder vier Mädchen gleichzeitig gut finden. Heute nennt man so etwas wie Gutfinden ein Mem. Ein Mem bedingt allerdings seine eigene Relativität, als einfach nur so Gedachtes. Wir hatten das Gutfinden als Tatsächliches. Das Gutfinden von 1978 hatte keine Vorbedingungen, Absicherungen oder Relativierungen. Es war einfach da.



Aber das Gutfinden war ungerecht verteilt. Mindestens die Hälfte aller Jungs fand Iris gut. Iris war die beste Schülerin der Klasse, die beste Sportlerin der Schule, sie sah bildhübsch aus und war dazu noch freundlich und nett. Iris gut zu finden war ein bißchen so wie einige Jahre später für Weltfrieden und Abrüstung zu sein. Iris war uneingeschränkt konsensfähig. Ich fand Iris gut. Übrigens fand Iris später Weltfrieden und Abrüstung gut. Ich auch.



Es wäre arg pointiert zu behaupten, wir wären uns direkt von Schulhofrassisten zu Friedensbewegten entwickelt, aber sehr viel Zeit lag nicht dazwischen. Echt nicht. Wir sprechen hier vom Sommer 1978. Im November 1979 gab es den NATO-Doppelbeschluß, und im nächsten Jahr ging es dann richtig los. Auch hier spielten die Mädchen eine wichtige Rolle, die das Massa-Nigger-Spiel sowieso schwachsinnig gefunden hatten, alle. Sie klebten Friedenstauben auf ihre Tornister, fingen an, im Unterricht Pullover zu stricken und dem Politiklehrer zu widersprechen. 14jährige Mädchen sind viel vernünftiger als gleichaltrige Jungs. Wir waren doch voll die Mongos.



Davon wußten wir aber alle noch nichts, als wir in stockdunkler Nacht auf dem Halterner Zeltplatz herumschlichen. Ich hatte eine Super-Taschenlampe, ich glaube, sie war von Daimon (eine Firma, die leider auch verglüht ist) und ziemlich neu, aus blauem Kunststoff und deutlich leuchtstärker als die Lampen der anderen. War ich auch ein Zeltneger – das hellste Licht auf dem Zeltplatz war von mir. Der Jugendzeltplatz am Halterner Stausee war nach Mädchen und Jungen getrennt, und Gruppen von Jungen versuchten Gruppen von Mädchen zu finden, vorzugsweise mit Mädchen, die sie gut fanden. Die Mädchen fanden wiederum Ricardo gut, der erst zum Anfang des Schuljahres gekommen war, und saßen mit ihm am Stauseeufer herum. Ich fand das ungerecht. Er war doch ganz neu, hatte sich doch noch gar nichts verdient, und sprach außerdem kaum Deutsch. Ricardo saß also im Kreis guter Mädchen, und wir anderen leuchteten doof durch die Nacht.



Nach vier Tagen fuhren wir wieder nachhause. Ich war so dreckig, daß die Badwanne einen tiefschwarzen Rand bei Füllhöhe mit Joachim hatte. Dann habe ich 14 Stunden geschlafen.



P.S. Iris ist Biologin geworden und nach Kanada ausgewandert. Sie hat drei wunderbare Töchter und mich letztes Jahr in Berlin besucht. - Über Ricardo weiß ich nichts weiter.