Also - viel Spaß mit Die Goldene 20!
Mittwoch, 1. Januar 2020
Die Goldene 20
So, es gibt einen neuen Blog, der vielleicht sogar ein klein wenig Ähnlichkeit mit diesem Projekt hat. Allerdings reisen wir nicht gemeinsam ins Jahr 1952, sondern in das Jahr 1970.
Also - viel Spaß mit Die Goldene 20!
Also - viel Spaß mit Die Goldene 20!
Freitag, 1. Dezember 2017
Z05 - Zeit - Allerletzter Post
Zeit. Ich habe dieses Lemma absichtlich an das Ende
gestellt. Ja, jetzt ist es endgültig vorbei. Es waren insgesamt etwas mehr als
fünf Jahre (weil die Veröffentlichung zuerst anderswo ein Jahr früher war). Und
ja, es hat Spaß gemacht. Und ja, es ist gut, daß es vorbei ist.
Das Schreiben war immer sehr, sehr einfach. Wenn es nicht
einfach war, sondern schwierig wurde, habe ich die Illustration einfach
weggetan. Das kam ungefähr zehnmal vor, also eine Quote von unter 5%. Manchmal
ganz merkwürdig, wozu mir alles nichts eingefallen ist, andererseits hat es
mich genau so überrascht, zu wie vielen Sachen mir doch etwas eingefallen ist.
Und es ist auch gut so, jetzt bei Z angekommen zu sein.
Diese Art, Geschichten zu erzählen, ist naturgemäß endlich. Ich habe für euch
nicht mehr zwanzig Kinderweihnachten, und auch nicht mehr viele Geschichten
über Spielzeugburgen, Kicken im Garten, abebrochene Türklinken undsoweiter.
Ursprünglich war das Projekt überhaupt nicht so autobiographisch geplant, wie
es dann später wurde. Es ist einfach so passiert, weil mir – vielleicht ein
Erbe des Ruhrgebiets – zu vielen allgemeinen Sachen dann doch ein privates
Gedöns einfällt.
Ganz am Anfang habe ich sogar noch pseudonymisiert, dann
aber (auch in der hier lesbaren Version) die echten Namen benutzt, als ich
feststellte, daß die Leute das sogar mochten. Oder es sie zumindest nicht
störte. Bis auf eine einzige Ausnahme, es gibt ein Lemma, bei dem alle Namen
ausgetauscht wurden, aber ich verrate nicht, welches.
Dies alles hätte es nicht gegeben, wenn nicht mein Vater
mir vor vielen Jahren den Brockhaus geschenkt hätte. Meine Eltern hatten ihn
gekauft, da waren sie noch ganz jung, oder noch gar nicht verheiratet. Dann kam
meine Schwester, und ich erst fünf Jahre später, und so bin ein wenig aus der
Brockhaus-Zeit herausgefallen.
Zeit von der Fa. Habmann, aus dem Nachlaß meines Vaters
|
Dabei ist es nicht so einfach, die (eigene) Lebenszeit
von der (allgemeinen) Weltzeit zu trennen, wenn man das Gefühl für ein
Zeitalter beschreiben will. So kommen mir die Siebziger unendlich naiv und
verspielt vor, aber allein deshalb, weil ich dort selbst fünf bis fünfzehn
Jahre alt war, naiv und verspielt. Zuerst hatte ich gedacht, der Brockhaus sei
aus der ganz falschen Zeit, weil einfach zu alt und vor meiner Zeit.. Dann aber
stellte ich fest, wie viele, längst verglühte Sachen aus dem Brockhaus und der
Brockhaus-Zeit mir noch geläufig waren. Münzfernsprecher. Erwachsene Männer,
die Hüte tragen. Kurzwarenabteilungen in Warenhäusern. Hosenträger. Es ist eine
ganz merkwürdiges Gefühl, ein so großen Teil der Gegenwart miterlebt zu haben,
auch wenn es ein gemischtes Gefühl ist, denn es natürlich auch eine
Begleiterscheinung des Alterns. Alter ist aufgeschichtete Zeit.
Die Illustrationen des Brockhaus-Blog waren eine ganz
merkwürdige Auswahl aus dem Bestand der Welt. Naturgemäß waren es viel öfter konkrete
Dinge als Abstrakta. Und diese physischen Sachen teilten sich auf, in
natürliche Dinge und von Menschen Geschaffenes, wobei die natürlichen Dinge
sich eher weniger verändern, aber unser Umgang mit ihnen. Eine Ananas 1952 ist
nichts anderes als eine Ananas 2017. Aber 1970 kannte ich Ananas nur aus der
Dose. In jenem Jahr im K-Markt oder im Coop in Dortmund-Lichtendorf eine Ananas
kaufen? Nicht wirklich.
Spaß, als Stichwort. Oh ja, bisweilen hab ich mich in
regelrechte Begeisterung geschrieben und auch Sachen nachgekauft, wie beim
Mosse-Code (T7) oder die Stube-Küchenwaage (W1). Hauptsache, ich konnte
ausführlich vom eigentlichen Thema abschweifen und über etwas Interessantes herumschwadronieren.
Achja, ein Grundprinzip des Blogs ist auch immer gleich geblieben. Es gab keine
Links. Auch das hat sich so ergeben, in ganz frühen Versionen der ersten Posts
gab es sogar noch welche. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dieses
Grundprinzip des Netzes hier gerade nicht anzuwenden. Gerade weil ein Lexikon
auch ein Verweissystem ganz eigener Struktur ist. Imaginäre Links sozusagen.
Und zuletzt, natürlich, noch ein Wort zu euch Lesern. Ich
weiß, es gibt eine Handvoll Stammleser (die ich auch meistenteils persönlich
kenne), und viele zufällige oder gelegentliche Leser, die das Internet hierhin
geweht hat. Wie auch immer: ich hab es nicht nur für mich, sondern vor allem
auch gerne für euch geschrieben. Und ich hoffe, ihr habt es vielleicht gerne
gelesen.
Und ebenfalls hoffe ich, daß ihr mich auf www.privileg270t.de besuchen werdet. Dort
ist aber alles total ernst. Fast alles.
So, jetzt. Jedes Ende hat seine Zeit.
Freitag, 24. November 2017
Z17 -. Zwiebel, Zylinder etc. – Vorletzter Post
Zwiebeln. Zwiebeln braucht man immer. Überlegt mal, wie
viele Rezepte Ihr so auf Lager habt, und wie viele ohne Zwiebel auskommen.
Eben. Die Zwiebel ist der Innenverteidiger der Gemüsen. Sie wird IMMER
gebraucht. Und nicht gerade wenige Gerichte, die sozusagen hauptsächlich auf
der Zwiebel ruhen. Wie zum Beispiel mein Gulasch, das eigentlich eher ein
Pfeffer Potthast ist und wahnsinnig viel Zwiebel braucht, und Zeit. Die
Hartnäckigkeit der Zwiebel erkennt man schon daran, daß sie seit 5.000 Jahren
kultiviert wird. Damit ihr das auch richtig kapiert: als Jesus in die Windeln
gemacht hat, da war die Zwiebel schon 3000 Jahre im Einsatz. Zu ägyptischen
Zeiten diente sie als Zahlungsmittel – der Bau der Pyramiden wurde mit Zwiebeln
bezahlt. Verblüffend! Und Schnuckies, bald ist ja Schluß hier, das ist der
VORLETZTE POST heute, aber so leicht werdet ihr mich nicht los. Und im neuen
Blog, das sei schon einmal verraten, wird es sehr viel um SUPPE gehen. Ja,
werde Foodblogger, aber bis es so weit ist, mache ich noch ein wenig Fashion
Blogging:
Zylinder. Der Zylinder ist ungefähr um 1820 so richtig
modisch und beherrschte den Rest des 19. Jahrhunderts. Ich habe Hüte generell,
nicht nur den Zylinder, stets für eine Fehlevolution der Kopfbedeckungen
gehalten und nie einen besessen. Erstens hält er nicht warm. Zweitens fliegt er
leicht weg. Und dann muß man ihn auch irgendwo hinlegen, auf die Hutablage. Bevor
ich Hüte aber generell und für immer schlecht mache, gibt es eine große
Ausnahme bei den Hutträgern: das ist Ericas Vater. Der ist jeden Morgen aus dem
Haus gegangen, mit einem grauen Hut, durch halb Ostwestfalen gewandert und
wieder zurückgekommen. Leider ist er vor Jahren gestorben. Aber ihr wißt, was
in Ericas Elternhaus auf der Hutablage liegt? Genau. Dieser Mann konnte Hut. Wir
können es eher nicht.
Zwieback. Hä, Einback? Habt ihr davon mal gehört? Nie
gehört, nie gesehen. Wobei mir peinlicherweise auch jetzt erst auffällt, daß
Zwieback zweifach gebacken bedeutet. Und wo es Zweiback gibt, da muß es auch
Einback geben. Einback ist aber keinesfalls ein halb fabrizierter Zwieback,
sondern wird eigenständig verkauft und verputzt. Warum weiß ich das alles
nicht? Warum stellt sich nach fünf Jahren Brockhaus-Blog heraus, daß ich von
den einfachsten und einbacksten Sachen keine Ahnung habe? Aber noch ein Wort zu
Schiffszwieback: davon habe ich immer in maritimen Romanen gelesen. Obwohl der
Schiffszwieback da nicht wegkommt: er sei hart, und bröckelig. Aber hey, würde es
im PENNY-Markt Schiffszwieback geben, ich wäre SOFORT dabei. Schiffszwieback!
Wißt ihr was? Ich werde etwas rührselig. Es ist schade,
dass es hier vorbei ist. Es ist natürlich auch gut so, denn es
hatte seine Zeit, und die ist vorbei. Aber: ich werde das hier vermissen. Echt.
Freitag, 17. November 2017
Z13 - Zirkel, Zitrone - Drittletzter Post
Zirkel. Diesen alten Zirkelkasten der Fa. Riefler hab ich
von meinem Vater geschenkt bekommen. Neben dem normalen Bleistifteinsatz gab es
auch Aufsätze für Tusche. Ich hab das dann auch ausprobiert, man hatte ja
Tusche auch für den Kunstunterricht. Das war aber nur eine riesige Sauerei.
Der Nullenzirkel ist übrigens ein Zirkel mit Feder und
einer verstellbaren Achse. Man kann damit Kreise mit Durchmesser von 0,1mm bis
15mm zeichnen. Erfunden hat ihn 1874 Emil Oskar Richter, der später mit der
Firma Richter-Reißzeug in Chemnitz extrem erfolgreich wurde. Später wurde
daraus die VEB Polytechnik in Karl-Marx-Stadt, die tatsächlich den einzigen
Arcade-Spielautomaten der DDR baute, den Polyplay, ein Pacman-Klon. Später ist
sie dann in der Wiedervereinigung verglüht.
Zitrone. Die Zitrone kommt natürlich aus Italien. Die
Medici liebten die Zitrone ganz besonders und haben im 16. Jahrhundert in der
Villa Medici de Castello in Florenz einen Zitrusfrüchtegarten angelegt, der
noch heute existiert. In dieser Zeit sind die Zitrusfrüchte auch in die
italienische Küche gesickert. Etwa nach Rom, zum berühmtesten Koch der
Renaissance, den Lombarden Bartolemeo Scappi. Er hat über vierzig Jahre lang für
sechs Päpste gekocht, mochte allerdings keine Zitronen und hat immer nur Apfelsinen
benutzt, wie seinem 1570 erschienenen Kochbuch „Opera“ zu entnehmen ist.
Gegenwart: Julia hat einen Zitronenbaum. Sie schreibt
mich an: „Ich bin mir nicht sicher, ob Du weißt, dass wir ein Zitronenbäumchen
haben. An diesem Bäumchen wächst seit 2 Jahren eine Zitrone, die immer schöner
geworden ist. Cornelius möchte sie nun bald ernten. Mäxchen auch. Und Klara
sowieso. Man kann nun aber nicht einfach zum Bäumchen laufen, die Zitrone
abreißen, aufschneiden und in den Tee drücken.“ Und hier das Foto von Julias
zweijähriger Zitrone, umlauert von drei zitronengierigen Kindern und einem
Königspudel:
Ob ich denn vielleicht ein zitroniges Rezept zur Hand
hätte? Ich habe allerdings überhaupt keine Ahnung von der Zitronenküche. Aber
schließlich bin ich ein Erbe des ersten Fernsehkochs Clemens Wilmenrod (schaut
doch mal, eine der ersten Einträge im Blog, A16). Wilmenrod erfand mit
Karl-May-Phantasie die dollsten Geschichten um seine Rezepte. Unvergessen, wie
er eine Schwäbische Hackfleischpfanne mit Meerrettich in sein Arabisches Reiterfleisch
verwandelte, mit dazugelogenen Geschichten über Kamelreiter am Lagerfeuer.
Und dann ist der große Tag gekommen. Wir lutschen
Zitronenbonbons, die Kinder schneiden Zwiebeln und heulen, und ich würze den
Braten mit meiner gewürztechnischen Geheimwaffe.
„Gewiß. Brathähnchen-Gewürzsalz gibt es seit der
Bronzezeit.“
Der Lombardische Zitronenbraten ist eines dieser schönen
Rezepte, bei denen man erst eine halbe Stunde Arbeit und Streß hat, aber dann
muß der Ofen lange seine Arbeit tun, und das macht er dann auch. Und dann wird
es tatsächlich lecker. Wirklich. Selbst das Klärchen will noch einmal
Nachschlag. Anschließend gibt es eine tolle Zitronen-Mousse, die das Mäxchen
gemacht hat. Ein chilenisches Rezept, berichten sie, mit Dosenmilch. Chilenen seien
nämlich absolut versessen auf Dosenmilch, und die gesamte chilenische Küche
würde auf Dosenmilch beruhen. Oh, das wußte ich ich noch gar nicht. Auf der
Rückfahrt fällt mir aber ein: da haben sie mich wilmenrod-mäßig verkohlt! Dosenmilchsaufende
Chilenen, das gibt’s doch gar nicht.
---
Und vor der feierlichen Ernte der Zitrone (Cornelius
schnitt sie mit einer Schere vom Baum, Klärchen hielt ein Tablett darunter) hatte
Mäxchen eine Rede über Zitronen geschrieben und gehalten. Sie schlug einen
weiten Bogen vom Gestaltzerfall beim Zitrone-Sagen über Zitroneneisessen bis hin
zu Zitronenträumen, und dann schloß sie mit den Worten:
Ja, da hat das Mädchen verdammt recht.
Freitag, 10. November 2017
Z12 – Zirkus – Viertletzter Post
Zirkus. Der hier abgebildete Zeltzirkus ist eine recht
junge Erfindung, die erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Vorher war man
darauf angewiesen, geeignete Häuser zu mieten, was natürlich schwierig war.
Außerdem wurde die Transportlogistik besser. Und die Zelte (der alphabetische
Zufall bindet Zelt in der letzten Lieferung an den Zirkus) wurden nahezu
ausschließlich von einem einzigen Hersteller zusammengenäht, der Firma Stromeyer,
die es in Radolfzell am Bodensee immer noch gibt.
Als Blütezeit des Zirkus gilt das erste Drittel des
letzten Jahrhunderts. In den Fünfzigern setzte ein sehr langsames, aber
unaufhaltsames Sterben ein. Zirkusse sind Familienunternehmen. Insofern wundert
mich die Wikipedia-Zahl, daß heute noch 300 Zirkusunternehmen durch das Land
reisen. Erstaunlich. Und dann knüpfen sie ihre Reklame an jedem Zaun. Übrigens
weit gefehlt, das geschehe anarchistisch oder einfach so. Für Berlin gilt etwa:
„Beim Aufstellen von Zirkuswerbetafeln (max. DIN A0) auf dem öffentlichen
Straßenland handelt es sich um eine Straßenlandsondernutzung. Der Zirkus ist
verpflichtet, eine Sondernutzungserlaubnis zu beantragen.“
Übrigens hat praktisch kein Zirkus eine Webseite. Es ist
sozusagen analoge Unterhaltung. Man kann die Darbietungen strukturieren: a)
Artistik b) Dressur c) Clown. Als Kind habe ich die Serie Salto Mortale
geguckt, die ich übrigens ziemlich langweilig fand. Dort ging es eigentlich nur
um diese Trapezgeschichten. Der Chef der Trapeztruppe war Gustav Knuth. Dazu
fällt mir ein, daß Gustav Knuth ein hundertprozentiger Garant für langweilige
Filme, Serien, Sendungen war. Ein Salto Mortale war ein dreifacher Salto, und
den konnte nur Hans-Jürgen-Bäumler. Da fällt mir auf, der Bäumler hat ja
eigentlich nur die Drehrichtung geändert, beim Eiskunstlauf ist er um die
Längsachse gedreht, und beim Salto Mortale jetzt um die Querachse. In den
Fünfzigern gab es auch schon Dreifachsprünge bei den Herren bei Olympischen
Spielen, aber der Bäumler hat das nicht hinbekommen, denke ich. Der hat eher
die Marika Kilius durch die Gegend geworfen. Bei Salto Mortale konnte er aber
dann seine Dreifach-Fantasien zumindest in der Rolle ausleben. Salto Mortale
statt Salchow Mortale, sozusagen.
Donnerstag, 2. November 2017
Z08 - Zelt
Zelt. Ich bin in einem Nichtzelt-Haushalt aufgewachsen.
Weder haben wir jemals Zelturlaub gemacht noch besaßen wir überhaupt ein Zelt.
Wenn ich ehrlich bin – ich denke auch nicht, allzu viel verpaßt zu haben.
Irgendwie ist mir der feste Raum doch sehr viel lieber, auch und gerade in
Ferienzeiten. So hat es lange gedauert, bis ich überhaupt zum Zelten kam; ich
glaube fast, es war fast der Klassenausflug zum Halterner Stauseee, in der
achten Klasse, im Sommer 1978.
Die Kinder aus Zelt-Haushalten hatten dann natürlich ein
eigenes Zelt mitgenommen und konnten dann noch ein Nichtzeltkind in ihr Zelt einladen.
Ich war weder ein Zeltkind noch war ich mit einem Zeltkind so dicke, für vier
Tage eingeladen zu werden. Für uns Zeltwaisen war dann ein großes, weißes
Gemeinschaftszelt vorgesehen, das man sich von der Kirchengemeinde geliehen
hatte (Kirchen haben so etwas einfach). Wir schliefen darin zu acht oder neunt,
was natürlich auch lustiger war als in einem puritanischen Besitzzelt. Wir
hatten auch nicht so spießige Regeln wie Schuheausziehen oder so etwas.
Andererseits war es genau so albern wie man sich das unter Vierzehnjährigen
vorstellt. Furzwettbewerbe. Rülpswettbewerbe.
Und noch viel schlimmer. In Frühjahr dieses Jahres war
„Roots“ zum erstenmal im deutschen Fernsehen gelaufen. Mit argen Folgen für
unser kindliches Gemüt. Nein, wir waren vom Schicksal des entführten Sklaven Kunta Kinte nicht ergriffen
und beeindruckt. Nein, es war ganz anders. Wir beschimpften uns gegenseitig als
„Nigger“ und ernannten uns selbst zum Massa. Wenn man jemanden im Schwitzkasten
hatte, brüllte man ihm ins Ohr: „Wer ist ein Nigger?“ „Hmmff, ich“ „Und wer ist
dein Massa?“ „Pfff, du.“ Ja, das war alles nicht richtig, sondern fürchterlich.
Nigger & Massa hatten in Windeseile die bisher führende Schmähung als
„Mongo“ abgelöst, die wiederum durch eine Serie, nämlich „Unser Walter“ einige
Jahre vorher den Weg auf die Schulhöfe gefunden hatte. Ja, wir waren super, wir waren auf dem
besten Weg zur Hochschulreife. Es war uns eigentlich klar, daß wir schon zu alt
waren für solchen Quatsch. Aber irgendwann hatte jemand damit angefangen, und
dann war es vorbei mit Anstand und Charakter und wir ließen unsere kleine
rassistische Sau heraus. Viele Jahre später befragt, behauptete jeder zwar,
sich daran erinnern zu können, aber selbst eigentlich gar nicht mitgemacht zu
haben.
Natürlich habe ich eigentlich auch nicht mitgemacht. Ich
glaube, ich habe keine einzige Folge „Roots“ gesehen, übrigens. Wenn die Eltern
etwas nicht geguckt haben, dann hat man das selbst auch nicht gesehen (für
heutige Kinder wohl sehr seltsam – Eltern gucken nicht „13 Reasons Why“, ja
und?). Höchstens einmal, wenn es WIRKLICH wichtige Sachen ging, z.B.
Adventsvierteiler, dann konnte man mitentscheiden. Aber doch nicht bei „Roots“.
Wir fuhren also auf unseren Rädern die 45km von Dortmund
nach Haltern. Zwischendurch gab es eine Badepause, keine Ahnung heute mehr,
welches Gewässer das gewesen ist. Achja, ich denke, ein Foto kann ich noch ohne
Namensnennung posten, zumal kaum Gesichter zu erkennen sind. Ich bin übrigens
nicht drauf. Rote T-Shirts waren im Sommer 1978 übrigens der heiße Scheiß. Ich
glaube, die kommen bald einmal wieder.
Badepause auf dem Weg nach Haltern |
Dann wurden die Zelte aufgebaut. Nachdem die Zeltkinder
ihre eigenen Zelte in zwanzig Sekunden aufgebaut hatten, halfen sie uns
Benachteiligten (den Zeltniggern, sozusagen) beim Aufbau der Kirchenzelte. Ich
bekam einen Platz links neben dem Eingang und pumpte meine Luftmatratze auf. Es
hat sich ein Foto überliefert aus jenen Tagen. Ich bin der Junge unten mit dem
roten T-Shirt (na klar!). Neben mir, mit der ZACK-Kappe, ist Ricardo, der
spanische Austauschschüler. Nachdem ich endlich zuende gepumpt hatte, spielten
wir Fußball auf einem Sandplatz, was super war.
Die halbe Nacht haben wir danach damit zugebracht, um
hintereinander herzuschleichen. Ich denke, heutzutage ist das mit 14
entspannter, aber zu jener Zeit war das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen
noch sehr komplex. Es war nicht so wie mit elf oder zwölf, als man mit keinem
Mädchen sprechen konnte, ohne als „Weiberheld“ verspottet zu werden. Nein, man
konnte schon durchaus mit Mädchen sprechen. Einige hatten sogar schon
„Erfahrungen“, wobei sich diese halb ausgedachten, halb erfundenen Ereignisse
auf sogenannten „Feten“ abspielten, auf die ich nicht eingeladen war.
Man konnte Mädchen „gut finden.“ Zu sagen, man sei
verliebt, war eher nicht ratsam. Ein Mädchen „gut zu finden“, bedeutete
letzthin nichts anderes, aber es klang viel harmloser und unverfänglicher. Gut
finden konnte man auch Himbeerbonbons, Wicki oder adidas-Sportschuhe. Würde
eventuell mal herauskommen, daß man ein Mädchen gut fand, konnte man noch immer
schulterzuckend sagen: „Na und? Ich finde viele Sachen gut!“ Außerdem verband
Gutfinden kein explizites Ziel mit dem Zustand. Wenn man verliebt gewesen wäre,
hätte man den Geliebten erobern wollen. Gutfinden war etwas, das ohne Zweck
oder bestimmtes Ziel passieren konnte. Status Quo und Queen wurden ja auch so
ganz ziellos gut gefunden. Und so konnte man – unter dem Siegel der
Verschwiegenheit – auch einem sehr guten Freund erzählen, wen man gut fand. Oder
man wurde glatt gefragt: „Und wen findest du gut?“ Ein weiterer Vorteil des
Gutfindens gegenüber einer Verliebtheit war auch eine sehr eingeschränkte Exklusivität. Man konnte drei
oder vier Mädchen gleichzeitig gut finden. Heute nennt man so etwas wie
Gutfinden ein Mem. Ein Mem bedingt allerdings seine eigene Relativität, als
einfach nur so Gedachtes. Wir hatten das Gutfinden als Tatsächliches. Das
Gutfinden von 1978 hatte keine Vorbedingungen, Absicherungen oder
Relativierungen. Es war einfach da.
Aber das Gutfinden war ungerecht verteilt. Mindestens die
Hälfte aller Jungs fand Iris gut. Iris war die beste Schülerin der Klasse, die
beste Sportlerin der Schule, sie sah bildhübsch aus und war dazu noch
freundlich und nett. Iris gut zu finden war ein bißchen so wie einige Jahre
später für Weltfrieden und Abrüstung zu sein. Iris war uneingeschränkt
konsensfähig. Ich fand Iris gut. Übrigens fand Iris später Weltfrieden und
Abrüstung gut. Ich auch.
Es wäre arg pointiert zu behaupten, wir wären uns direkt
von Schulhofrassisten zu Friedensbewegten entwickelt, aber sehr viel Zeit lag
nicht dazwischen. Echt nicht. Wir sprechen hier vom Sommer 1978. Im November
1979 gab es den NATO-Doppelbeschluß, und im nächsten Jahr ging es dann richtig
los. Auch hier spielten die Mädchen eine wichtige Rolle, die das
Massa-Nigger-Spiel sowieso schwachsinnig gefunden hatten, alle. Sie klebten
Friedenstauben auf ihre Tornister, fingen an, im Unterricht Pullover zu
stricken und dem Politiklehrer zu widersprechen. 14jährige Mädchen sind viel
vernünftiger als gleichaltrige Jungs. Wir waren doch voll die Mongos.
Davon wußten wir aber alle noch nichts, als wir in
stockdunkler Nacht auf dem Halterner Zeltplatz herumschlichen. Ich hatte eine
Super-Taschenlampe, ich glaube, sie war von Daimon (eine Firma, die leider auch
verglüht ist) und ziemlich neu, aus blauem Kunststoff und deutlich
leuchtstärker als die Lampen der anderen. War ich auch ein Zeltneger – das
hellste Licht auf dem Zeltplatz war von mir. Der Jugendzeltplatz am Halterner Stausee war nach
Mädchen und Jungen getrennt, und Gruppen von Jungen versuchten Gruppen von
Mädchen zu finden, vorzugsweise mit Mädchen, die sie gut fanden. Die Mädchen
fanden wiederum Ricardo gut, der erst zum Anfang des Schuljahres gekommen war,
und saßen mit ihm am Stauseeufer herum. Ich fand das ungerecht. Er war doch
ganz neu, hatte sich doch noch gar nichts verdient, und sprach außerdem kaum
Deutsch. Ricardo saß also im Kreis guter Mädchen, und wir anderen leuchteten
doof durch die Nacht.
Nach vier Tagen fuhren wir wieder nachhause. Ich war so
dreckig, daß die Badwanne einen tiefschwarzen Rand bei Füllhöhe mit Joachim
hatte. Dann habe ich 14 Stunden geschlafen.
P.S. Iris ist Biologin geworden und nach Kanada
ausgewandert. Sie hat drei wunderbare Töchter und mich letztes Jahr in Berlin
besucht. - Über Ricardo weiß ich nichts weiter.
Abonnieren
Posts (Atom)