„Behinderungen“ als Ausdruck von Vielfalt

Es ist erstaunlich, wie sehr wir gewohnt sind in „Normen“ zu denken und stutzig zu werden, sobald etwas nicht unter unsere übliche Schablone passt. Ich glaube ein großer Teil des rigiden Denkens liegt darin begründet, dass wir zu wenig Berührungspunkte mit Behinderungen also „Andersartigem“ haben.

In einem meiner absoluten Lieblingsfilme „XXY“ kämpft Alex mit einer Gesellschaft, die Hermaphroditen zwingen will, sich einem Geschlecht zuzuordnen. Ihre biologische Besonderheit wird als „Missbildung“ abgeschrieben, welche es zu korrigieren gilt. Du darfst nur Mann oder Frau sein. Aber warum nicht den Menschen so lassen, wie er eben ist? „Sie war perfekt.“ beschreibt in dem Film der Vater seine Gedanken nach der Geburt seines Kindes.

Es lebe die Formenvielfalt!

Zu einer ähnlichen Erkenntnis konnte auch Harnaam Kaur (1) kommen, nachdem ihre „Stoffwechselstörung“ (namens Hirsutismus) sie fast in den Selbstmord getrieben hatte. In dem Dokumentarfilm „Embrace“ erzählt sie von der Qual, wie es ist, wenn dir als Frau ein rustikaler Männerbart wächst. Und wie sie schließlich lernte, sich so zu nehmen, wie sie ist. Heute liebt sie aufrichtig ihren Körper, gerade für seine augenscheinliche Unterschiedenheit. Und meint passend: „Es gibt keine Antwort darauf, was Schönheit ist. Wir sind alle so verschieden und das müssen wir feiern.“

Wer ist schon perfekt? Komm näher! Behinderungen und Modepuppen

Vor ein paar Jahren gab es in Zürich eine Aktion von Pro Infirmis, in der Schaufensterpuppen nach realen Personen abgebildet wurden. Die hatten dann auch entsprechend Wirbelsäulenverkrümmungen, fehlende Beine oder Zehen. Ich finde, wir brauchen mehr solcher Denk-Anstöße, um die Sichtbarkeit von Behinderungen in der Gesellschaft zu erhöhen:

Wir sind da und wir sind viele!

Bei der Beschäftigung mit dem Thema bin ich auch über Ralf (46, aus der Nähe von Bonn) gestolpert, der auf Instagram „Thoughts on Difference“ mit seinen Lesern teilt. Hier stellt er Menschen vor, die „aus der Norm fallen“ und daher immer Blicke auf sich ziehen. Behinderungen sind auch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Beim anschließenden Q&A werden dann Fragen gestellt, bei denen man auch mal um die Ecke denken muss.

Lieber Ralf, erzähl doch mal, was dich dazu bewogen hat, so einen Blog auf Instagram zu starten!

Ich selbst habe je zwei Zehen an den Füßen, die zusammengewachsen sind (nennt sich Syndaktylie). Meine Mutter hatte das genauso. Das war und ist für mich immer ein Funfact. Es ist vielleicht mit die kleinste Abweichung vom körperlichen Standard, die es so gibt und keine Auswirkung auf irgendetwas hat. Als Kind hat mich mein Cousin einmal deswegen als „behindert“ betitelt und das hat sich bei mir im Kopf festgesetzt.

Ich habe Menschen mit einer körperlichen Behinderung immer mit einer gewissen Faszination betrachtet. Ich fand es bei mir selber irgendwie interessant, dass ich etwas hatte, was anders war und ich habe mir dann vorgestellt, wie Menschen empfinden, bei denen eben mehr „anders“ ist.

Hier geht es zu den Profilen: @scottiethetrex, @nicolaspetit, Natascha @luckyfinnails, Jana @handicapped_beauty – sie alle haben schon bei Ralf (@thoughtsondifference) mitgemacht

Warum ich das mache? Weil mir Menschen wichtig sind. Wenn wir von Menschen sprechen, haben wir oft eine Masse vor Augen, in der jede Individualität verloren geht. Aber sobald ich mit einem Menschen interagiere, ist er ein Individuum, der eigene Vorstellungen und Bedürfnisse hat.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist für mich, dass es darum geht, den Menschen mit seiner Besonderheit kennenzulernen, nicht aber ihn zur Schau zu stellen.

Worin liegt deiner Meinung nach das Problem im Umgang mit Menschen, die von der Norm abweichen?

Wir müssen aufhören, Menschen merkmalstechnisch zu unterscheiden. Also wie: männlich – weiblich, farbig – weiß, jung – alt, nichtbehindert – behindert. Denn jede dieser Unterscheidungen basiert auf einem Vergleich und jeder Vergleich führt zu einer Wertung, was besser und schlechter ist.

Menschen mit Behinderung sind mir deshalb in diesem Sinne wichtig, weil sie aus unserer Mitte kommen, es geht daher immer nur um Inklusion und nicht um Integration. Integration kann auch beinhalten, dass diejenigen, die ich integrieren möchte, auch etwas dazu beitragen müssen, z.B. die
Sprache zu lernen. Aber was soll in dieser Hinsicht von einem behinderten Menschen kommen?

Wie ambivalent unser Verhalten ist, zeigt sich z.B. an Eltern, die ein Kind mit Behinderung bekommen. Zu einem gewissen Anteil waren sie (sicher auch oft unbewusst) dafür mitverantwortlich, dass unsere Gesellschaft es Menschen mit Behinderungen schwer macht. Dies ist aber genau eine der Hauptbefürchtungen, wenn es um die Zukunft ihres Kindes geht.

Was möchtest du den Lesern nahe legen, wie sie in Zukunft vielleicht anders handeln sollten?

  • Menschen mit einer körperlichen Behinderung sind sich bewusst, dass sie eine Behinderung haben
  • Sie sind sich ebenso bewusst, dass Du es auch weißt.
  • Es ist also nicht notwendig, krampfhaft so zu tun, als wäre es nicht so.
  • Wenn Du ein ehrliches Interesse hast, stelle die Fragen. Das kommt viel besser an, als rumzudrucksen.

Menschen mit Behinderung sind genauso, wie alle anderen Menschen, nur eben mit einer Behinderung. Man muss nicht alle Menschen toll finden, weil sie eine Behinderung haben. Aber schlimmer ist es, Menschen auszuschließen, nur weil sie eine Behinderung haben.

Vielen Dank, lieber Ralf, für dein Engagement!

Normale Menschen gibt es nicht.

Sie sind überall. Sie sind ein Teil von uns. Sie sind auch du und ich, mal mehr, mal weniger sichtbar. Sie sind die Menschen, die von der „Norm“ abweichen. Den einen fehlt ein Bein, den anderen ein Finger. Es gibt Hermaphroditen, Albinos, besonders große und auffällig kleine Menschen: die Liste könnte endlos weitergehen!

Was machen wir mit diesen Menschen, die unter uns sind und zu uns gehören? Wir starren sie an, wir tuscheln, wir fühlen uns unsicher, wir schauen lieber weg. Und sind wir selbst von der Norm abweichen, schämen wir uns. Versuchen unsere „Behinderungen“ zu kaschieren, wo es eben geht. Keine Aufmerksamkeit zu erregen. So wird etwas tot geschwiegen, was eigentlich völlig normal ist: Wir alle sind eben verschieden, es lebe die Formenvielfalt!

Daher finde ich es gut, dass es Menschen wir Ralf gibt, die sich dafür einsetzen, dass Menschen mit Unterschieden sichtbarer werden und gehört werden mit ihren Gedanken und Empfindungen.

Noch eine Sache zuletzt: Ich achte seit einiger Zeit bewusst darauf, wie ich Beobachtungen formuliere. Zu sagen etwas sei „krankhaft“ oder „missgebildet“ trägt auch immer ein abschätziges Urteil in sich.

Menschen mit Anliegen - Über diese Artikelserie

Menschen engagieren sich. Stehen für etwas ein, helfen und unterstützen oder bewahren. Ich komme mit ihnen ins Gespräch und stelle die Projekte hier vor.

(1) nicht Rose Geil (wie ich zuerst annahm)

3 Responses

  1. Hallo Gabi,

    immer wenn mich Männer fragen, welches Körperteil mir bei ihnen am wichtigsten ist, dann
    sage ich : Dein Gesicht- denn dort kann ich alles über Dich erfahren. Deine Gefühle, Deine Gedanken,Dein Wesen- eben alles wer Du bist.

    Was kann mir denn ein Waschbrettbach schon erzählen?

    Aus dem Gesicht entnehme ich Anti oder Sympathie. Kommuniziere ich lautstark oder am liebsten Nonverbal und doch ist es die größte treibene Kraft.

    Finde ich jemanden anhand seine Gedanken und seines Gesichtes sympathisch passt auch oft alles andere dazu. Dann kann mich ein fehlender Arm, oder eine zusammengewachsene Hand auch nicht mehr abschrecken.

    Probiers mal aus! Schau erst in ihre Gesichter, und decke den Rest ab. Die Frau mit den roten Haaren ist mir suuuppper sympathisch, ich bin mir sicher wir würden uns gut verstehen… und jetzt schau ihre Hand an. Magst Du sie jetzt deswegen weniger? Ich glaube kaum.

    Ansonsten ist es doch aber auch erstmal völlig normal dass ich /man die Menschen auf der Strasse ansieht- das mache ichaber bei allen Menschen die mir vor die Augen laufen.

    Also der Mann im ANzug, gleich dem der voll tätoviert ist u.sw. oder dem“ normal“ aussehenden der mich gerade blöd anmacht.

    Eine körperliche Beeinträchtigung macht jemanden nicht unsympathisch, sondern sein Charakter .
    Seine Ausstrahlung/ seine Gedanken oder das andere nicht greifbare ( biochemische Substanz) .

    Also ich mag nicht jeden der 2 Beine hat und alles andere auch vorhanden ist.

    Ich mag aber auch nicht jeden der im Rollstuhl sitzt.

    Ich mag die Menschen – die ich eben mag und die mich mögen.

    • Ich stimme dir voll zu, das Gesicht eines Menschen ist das, worauf ich am meisten achte.
      Dennoch glaube ich, ist keiner frei von Vorurteil. Der erste Eindruck wird immer ganz schnell geschehen, … und da finde ich es einfach wichtig, offen zu bleiben und nicht den Menschen vor dir wegen ein paar Sekunden gleich in eine Schublade zu stecken (bzw. diese Schublade fest zuzuschließen)

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