Sterbende Menschen zu Wort kommen lassen | Geschichtensammler

Martina und Tim (beide 34 Jahre jung und aus Jena) haben es sich zur Aufgabe gemacht, anderen Menschen zuzuhören. Die zwei finden, dass jeder Mensch eine Geschichte hat, die es wert ist, erzählt zu werden. Seit drei Jahren arbeiten sie daher in ihrem Projekt „Meilensteine“ und entwickeln kleine Buchprojekte mit wahren Lebensgeschichten.

Wie kam es dazu, dass ihr die Memoiren anderer Menschen erzählen wollt?

„Geschichten erzählen wir schon lange – Martina zuvor als Fotografin, Tim seitdem er klein ist.“

„Vor etwas mehr als zehn Jahren suchte Tim nach einem Geschenk zum 70.Geburtstag seiner Großmutter, schrieb 70 Menschen aus ihrem ganzen Leben an und fragte diese nach dem lustigsten Erlebnis, dass sie mit seiner Oma verbanden. Daraus wurden Kurzgeschichten, die gesammelt in einem Buch landeten. Martina erzählte mit ihren Fotografien von Menschen, von der Liebe und von neuem Leben. Es waren ganz normale und doch außergewöhnliche Geschichten, die berührten und bewegten. Die Reaktionen darauf waren umwerfend und am Ende waren diese Erfahrungen in Summe die Geburtsstunde von dem was wir heute unseren Beruf nennen.“

Welche Herausforderungen begegnen euch da?

„Zum einen kommt man sehr viel und sehr, sehr intensiv mit Menschen in Kontakt. Wir sind immer wieder erstaunt und sehr dankbar über das uns entgegengebrachte Vertrauen und es scheint, als würden viele Menschen jahrelang darauf warten, dass sich ihnen mal jemand gegenübersetzt und ehrlich nach ihrer Geschichte fragt, zuhört, spiegelt und damit einen Prozess des nochmaligen Erlebens in Gang setzt.

Der Genuss darin ist zu gleichen Teilen auch die Schwierigkeit: jeder Mensch ist anders, jede Geschichte ist anders und ihnen allen in ihrem Wesen gerecht zu werden ist und bleibt eine spannende Herausforderung.

Zum anderen kommen wir so auch in Kontakt mit vielen eher dunklen Farben des Regenbogens und den Lasten, die das Leben für viele bereithält. Wir fühlen mit und haben keinen Knopf, der auf privat umschaltet, wenn wir wieder gehen.“

Das Meilenstein-Projekt gibt Menschen die Möglichkeit, ihre eigene Lebensgeschichte in wunderschöne Buchform zu bringen.

Über ihr aktuelles Anliegen bin ich auf Martina und Tim aufmerksam geworden:

Menschen im Hospiz erzählen, was noch zu sagen ist

Hospiz-Projekt: »WAS ICH NOCH ZU SAGEN HÄTTE«

Weswegen findet ihr es wichtig, gerade Menschen im Hospiz eine Stimme zu geben?

„Wir alle zelebrieren die Geburt, mehr denn je. Den Tod jedoch, den einzigen Fakt, der von Anfang an besteht, den lagern wir Stück für Stück aus und schieben ihn an den Rand der Gesellschaft.

Ich (Martina) finde es befremdlich, nur die Geburt und nicht den Tod zu feiern. Am liebsten wäre mir, wir würden das Leben feiern, nicht nur den Beginn, sondern auch zwischendurch und auch an dessen Ende.

Natürlich ist es furchtbar, wenn jemand gehen muss, aber war es nicht auch schön, dass er da war und was man gemeinsam erlebt hat?

Nicht Schwarz oder Weiß, sondern ein gesundes Grau: Dankbarkeit und Traurigkeit, Glück und Schmerz – es geht mir also um eine gesunde Balance im Umgang.

Viele denken, dass es depressiv machen würde, sich mit dem Sterben zu beschäftigen. Wir glauben, das Gegenteil ist der Fall: das Wegrennen und Ausgrenzen schürt unsere Ängste. Ein natürlicher Umgang würde anders aussehen: aktiver und bewusster und damit wahrscheinlich sehr vielen Menschen helfen – den Sterbenden und denen, die sich mitten im
Leben wähnen.“

Welche Erkenntnis konntet ihr durch eure Arbeit gewinnen?

„Wir glauben, dass wir als Gesellschaft (aber auch als einzelner Bestandteil dieser) in einem sehr tiefgreifenden Entwicklungsprozess des Umdenkens sind. Das, was vorgelebt wurde, funktioniert für viele nicht mehr und nach und nach begreifen immer mehr Menschen, dass sie die Möhre, die ihnen vorgehalten wird mit dem Versprechen, wenn sie sich nur genug anstrengen, sie auch erreichen zu können, unerreichbar bleibt.

Soll heißen: Wir folgen den falschen Zielen, stellen die falschen Fragen, ziehen die falschen Schlussfolgerungen und setzen obskure Prioritäten.

Alle sind außer Atem, viele in Angst.

Durch die Gespräche mit Sterbenden ist uns aufgefallen, dass aus der Perspektive des Lebens-Endes vieles sich klarer darstellt. Die meisten bereuen zu wenig gelebt und geliebt und sich dafür zu viel gehetzt und gesorgt zu haben.“


Was sollte sich ändern?

„Die größte Hilfe für alle ist es, sich nicht mehr wegzudrehen. Es gibt Gründe, warum Hospize in aller Regel am Stadtrand sind und wir denken, es wäre für alle gut, wenn wir das Sterben und die Sterbenden wieder in die Mitte der Gesellschaft holen; auch weil es uns, die wir uns gesund und jung fühlen, im eigenen Leben immer wieder besinnen lassen würde, auf das was tatsächlich wichtig ist.“

Vielen Dank liebe Martina, lieber Tim – für euer Engagement!

Wer das Projekt unterstützen mag, kann bis zum 31.Juli 2019 beim Crowdfunding mitmachen:

jena-crowd.de

Menschen mit Anliegen - Über diese Artikelserie

Menschen engagieren sich. Stehen für etwas ein, helfen und unterstützen oder bewahren. Ich komme mit ihnen ins Gespräch und stelle die Projekte hier vor.

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