Gesellschaft

Die Geschichte einer Flucht

Oktober 2015. Ich sitze in einem karg eingerichteten Wohnzimmer – Couch, Tisch, Fernseher, keine Gardinen aber ein großer Korb voll mit altem scheinbar gespendeten Obst auf dem Fensterbrett – und lasse mich ein auf ein Interview mit drei syrischen Flüchtlingen. Mit Ahmad (32), Gassan (35) und Majd (36) [1]Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen redaktionell geändert. Das Interview erschien zuerst im Regionalmagazin „Herzogtum Direkt. Im Mai sind sie aus Syrien geflohen und seit Juli in Deutschland. Nun leben sie in Mölln und warten darauf, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.

Ich bin pünktlich, doch keine drei Minuten vor mir haben schon zwei Kirchenvertreter an der Tür geklingelt. In dem Glauben, die zwei seien gekommen, um das geplante Interview zu führen, wurden sie eingelassen und bekamen nach syrischer Tradition Tee gereicht. Nun stehe ich im Raum, das Missverständnis klärt sich schnell auf. Ahmad bekommt eine Bibel auf syrisch versprochen, dann machen sich die christlichen Fremden wieder auf, die Tassen bleiben unberührt.

Die Geschichte einer Flucht

syrisch arabischer Tee
Jedem Gast wird Tee angeboten.
Foto von secretlondon123 | Lizenz: CC BY-SA 2.0

Möchtest du deinen Tee mit Zucker? fragt mich Gassan. Ich verneine. Er staunt und schaut mich ungläubig an.
Dann setzen wir uns, ich bekomme den Platz auf der Couch, die drei sitzen im Kreis auf Stühlen um mich herum, und ich kann mit den Fragen beginnen. Zu meiner linken sitzt Ahmad. Er fällt auf mit seiner gepflegten Kleidung, teuer ausschauenden Armbanduhr. Gassan und Majd sind eher sportlich leger gekleidet. Wir steigen gleich in die harten Themen ein. Sie erzählen von ihrer Flucht, von ihrer Angst, von den Schwierigkeiten und Gefahren. Und obwohl sie alle ungefähr in meinem Alter sind, komme ich nicht umhin, mich viel jünger zu fühlen. Vor mir sitzen Menschen, die neben der Verantwortung eine Familie zu ernähren, seit vier Jahren in einem Krieg lebten und tausende Kilometer Weg auf sich nehmen mussten auf ihrer Flucht. Diese Lebenserfahrung lässt sie älter wirken.

„Einmal“, setzt Ahmad an, eine weitere Episode ihrer aufgezwungenen Reise zu beschreiben, „kam ein Auto an uns vorbeigefahren und die Leute warfen uns sechs Flaschen Wasser hinaus. Ich hab mich so erniedrigt gefühlt. In meinem Heimatland bin ich kein Obdachloser. Und hier nun, in Mazedonien, schlafe ich auf der Straße, zwischen Büschen und Gestrüpp und irgendjemand denkt, er könne mir Wasser hinwerfen.“ Unwillkürlich stelle ich mir vor, mein Vater wäre auf die Flucht gegangen. Vom sozialen Status her, von der Würde die sie ausstrahlen, zieht der Vergleich. Allein schon die bloße Vorstellungen, meinen Vater in so einer entwürdigen Situation zu sehen – verdreckt, hungrig, verzweifelt und ausgelaugt –  tut mir in der Seele weh. Ich bin dankbar dafür, hier sein zu dürfen, und mir die Augen öffnen zu lassen.

Von Mensch zu Mensch

Drei syrische Männer werden vor meiner Nase von bloßer Statistik zu menschlichen Wesen. Nachdem sie mir zwei Stunden ihre beeindruckende Geschichte erzählt haben, werde ich gefragt, ob ich nicht bleiben möchte. „Majd kocht so gerne! Sei unser Gast!“ Hier fing der Abend erst wirklich an.

Es ist nicht mein Anliegen, heute all die Hintergrundinfos zu geben, die vielleicht in dieser Sache nützlich zu wissen wären. (Dass die Hälfte aller Syrer einen Gymnasialabschluss haben und aus ökonomisch guten Verhältnissen stammen, beispielsweise. Oder wie die Flüchtlinge verteilt werden. Oder dass Menschenrechtsorganisationen schon seit Jahren warnen, dass die Zahl der Asylsuchenden steigen wird & Deutschland also lange Zeit gehabt hätte, sich gut vorzubereiten…)

Ich will vielmehr, dass wir alle einen Moment lang inne halten und an unsere Herzen jenes Bild lassen, das ich von Gassan bekam an diesem Abend.

Gassan war es, der mir die Tür mit einem breiten Lächeln öffnete. Er war es, der erstaunt war, dass ich keinen Zucker in meinem Tee wollte. Gassan war es, der mir im Verlaufe des Abends beibrachte, wie man Zigaretten richtig stopft. Immer, immer lächelte er milde und lachte und scherzte mit uns. Doch schaute ich ihm in die Augen, sah ich den Schatten des Kummers darin: seinen Vater hatte er durch den Krieg verloren, seine Mutter, Frau und Kinder zurück lassen müssen, als er auf die Flucht ging. Zu gefährlich und mühsam erschien ihm die Strecke für seine Liebsten.

Nun springt er auf und kommt kurze Zeit später mit seinem Rucksack zurück: „Jetzt ist er wieder sauber“, erklärt er mir. Redbull und Snickers, zwei Wasserflaschen, Dokumente und Geld und ein paar Klamotten zum Wechseln, das war alles was er mitnehmen konnte. Der Rucksack war ihm Freund und Feind zugleich auf seinem gefährlichen Weg: „Irgendwann wird dir das leichteste Ding auf dem Rücken zur Last, wenn du zweihundert Kilometer tagein tagaus auf Wanderschaft bist.“

Doch nachts in Mazedonien, wenn sie sich schlafen legten auf der Straße zwischen Staub und Dreck, da hatte er seinen Rucksack als Kissen genommen und sich zuweilen in den Schlaf geweint, gesteht er mir.

Ich gaube ihm. Ein kurzer Moment betretendes Schweigen folgt auf diese Erinnerung, dann leuchtet sein Gesicht wieder auf und er führt mir schelmisch grinsend seine Badehose vor. Darin eingenäht eine Tasche für Dokumente und Geld: damit bei den Überfällen, die sie durchleben mussten, die Kerle ihm nicht restlos alles abnehmen konnten. Die drei lachen das Lachen derer, die es dringend zum Weiterleben benötigen. Die es lachen müssen, um die Hoffnung nicht aufzugeben.

Hoffnung auf Wiedervereinigung

Zum Beispiel darauf, dass Gassan es schaffen wird, seine Mutter nach Deutschland zu holen. Das Gesetz zur Familienzusammenführung sieht eine verwitwete Mutter nicht als Teil der Familie an. Es zählen nur Frau und eigene Kinder. Doch seine Mutter auf sich gestellt zurück in Syrien zu lassen, bräche ihm das Herz. „Eine alte Frau in Syrien und allein: das kommt einem Todesurteil gleich!“ erklärt Ahmad die Sorgenfalten auf Gassans Stirn.

syrischer Vater mit seinen Kindern
Fotos auf dem Handy von der Familie – Das ist das, woran sich die Väter festhalten.

Foto von Russell Watkins/Department for International Development | Lizenz: CC BY 2.0

Schließlich setzt sich Gassan an den großen Tisch vorm Fenster und macht Musik an. Whitney Houston. Irgendwie hatte ich arabische Klänge erwartet. „Willst du meine Familie sehen?“ fragt er mich und ich nicke gespannt, rücke meinen Stuhl etwas näher. Er holt sein Smartphone aus der Tasche und zeigt mir ein Foto von seinem letzten Geburtstag. Der Tisch ist reichlich gedeckt mit Kuchen und Torte, allerhand Speis und Trank und einer Schale voll Pampelmusen. Zur Feier des Tages hängen Luftballons an der Wand. Ich sehe Gassan auf dem Sofa zurückgelehnt, seine Mutter neben ihm und auf ihrem Schoß sitzen zwei Kinder mit dem breiten Lächeln ihres Papas. Der Sohn berührt seinen Vater am Hals, als hätte er sich gerade aus einer Umarmung gelöst, die dritte Tochter hat ihre Ärmchen noch fest um seinen Bauch geschlungen. Gassan lächelt auch hier, aber es ist ein trauriges Lächeln: denn sein Geburtstag ist gleichzeitig auch der Tag, an dem seine Flucht beginnt.

Bilder eines schönen Lebens

Auf dem nächsten Foto sehe ich seine Frau vor einem Springbrunnen. Sie trägt kein Kopftuch, wie man vielleicht hätte meinen können. Dann ein Foto von seiner Tochter wie sie spielt, eines vom Sohn auf der Schulter. Ein ganz normales, wunderbares Leben sehe ich auf diesen Bildern. Urlaubsbilder, Alltagssituationen.

Lachen, Strahlen, Glück. Gassan wischt weiter, Foto um Foto, Erinnerung um Erinnerung. Das ist das einzige was ihm jetzt noch geblieben ist.

Wie zerbrechlich doch dieser anheimelnde Frieden ist, denke ich. Da führen auf einmal irgendwelche Mächtigen mit Waffen und Bomben einen Krieg, und keine Logik gibts dahinter. Am Ende hängt man plötzlich in einem fremdem Zimmer am andern Ende der Welt fest und zeigt einer unbekannten Journalistin die privatesten Aufnahmen seines Glückes. Wie Gassan sich nach seinen Kindern sehnt, ist in seinem Gesicht geschrieben. Wie er seine Frau an seiner Seite vermisst und sich um seine Mutter sorgt. Ungefragt fährt er fort, seine Fotos auf dem Smartphone zur Seite zu streichen, er wirkt ganz verloren darin. Mir stehen die Tränen in den Augen und ich habe Mühe den Kloß runterzuschlucken.

Stell dir vor…

Ich weiß, meine Geschichte erzählt nichts Neues. Das alles habt ihr euch sicher schon denken können: Menschen auf der Flucht hinterlassen Freunde und Familie und nehmen einen beschwerlichen Weg auf sich, um eines Tages ihre Familie in die Sicherheit Deutschlands nachholen zu können. Doch wenn ihr nur einen kurzen Augenblick euch vorstellt, dieser Gassan wäre nicht irgendein Fremder, sondern jemand aus EURER Familie. Wie ihr selbst bangen und hoffen würdet. Wie ihr bittere Tränen weinen, nachts nicht schlafen können würdet und immer immer daran denken, endlich wieder ein „normales Leben“ führen zu können. Ich sage: Wer hierher kommen will, soll hierher kommen, wer hier leben will, soll hier leben und arbeiten können. Ganz so, wie auch ich die Freiheit haben möchte, mich entscheiden zu dürfen, wo auf dieser Welt ich leben und wirken möchte. Die Welt ist unser aller Ort und ich verabscheue Ländergrenzen, wenn sie die einen priveligieren alles zu dürfen und die anderen dazu erniedrigen als Flüchtlinge (nicht einfach Schutzsuchende) angesehen zu werden, deren Freud und Leid (die ganze Zukunft!) von unserer Gnade abhängig ist. Wie ich das sehe, sind Gassan und seine Freunde unsere Mitbürger von morgen. Und so mutig, humorvoll und voll Liebe wie sie sind, freue ich mich drauf!

Was hilft, ist euer Lächeln – Ein Interview mit drei syrischen Flüchtlingen

Ich war im Oktober 2015 zu Gast bei Ahmad* (32), Gassan* (35) und Majd* (36). Im Mai sind sie aus Syrien geflohen und seit Juli in Deutschland. Nun leben sie in Mölln und warten darauf, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Das Interview haben wir auf Englisch geführt.

Hallo, schön, dass ihr euch so schnell und unkompliziert für ein Interview zur Verfügung gestellt habt. Erzählt doch kurz ein bisschen etwas über euch!

Ahmad: Danke, wir freuen uns sehr über diese Gelegenheit. Ich bin Ahmad, ich komme aus Latakia. Nach meinem Maschinenbau-Studium habe bei einer Öl- und Gasfirma gearbeitet. Zu Hause habe ich noch eine Ehefrau, aber keine Kinder.

Gassan: Ich wohnte mit meiner Frau und meiner 7-jährigen Tochter und meinen 3-jährigen Zwillingen in Damaskus und habe auch studiert. Und zwar Philosophie und Sozialwissenschaften. Ich hatte einen Job im Bereich der Telekommunikation, bevor ich geflohen bin.

Majd: Ich leitete einen Taschenladen in Hama. Davor habe ich Elektrotechnik studiert. Ich habe eine Frau, zwei Töchter (7 und 9 Jahre) und einen sechs Monate alten Sohn.

Wie kommt es, dass ihr drei geflohen seid? Kanntet ihr euch schon vor der Flucht?

Vater hält Tochter Krieg
Syrien war kein sicherer Ort mehr zum Leben. – Foto von Freedom House

Ahmad: Gassan und ich haben uns auf der Flucht in der Türkei kennengelernt. Majd ist erst in Deutschland zu uns gestoßen. Nein, vorher haben wir uns nicht gekannt. Aber jetzt sind wir wie Brüder. Uns hat alle drei das gleiche Schicksal ereilt. Seit vier Jahren ist in Syrien Krieg. Vor dem Krieg gab es sicherlich keine Flüchtlinge aus Syrien, die nach Deutschland gegangen sind. Uns ging es doch recht gut, würde ich sagen. Nun kämpfen Regierungstruppen gegen Rebellentruppen und Syrien ist kein sicherer Ort mehr. Wir haben immer versucht uns aus allem rauszuhalten und gehofft, dass der Krieg bald aufhört. Doch eines Tages bekamen wir einen Brief von der Regierung. Das war ein Einberufungsbefehl. Wir sollten innerhalb weniger Wochen zum Militär gehen. Wir wollten aber nicht zur Armee, wir wollen nicht kämpfen. Wir wollen einfach nur ein normales Leben führen. Zur Arbeit gehen, um die Familie zu versorgen. Als nun die Einberufung kam, war uns allen klar, dass wir fliehen müssen.

Das muss ein ziemlicher Schock für die Familie gewesen sein?

Ahmad: Wenn du am Tag der Einberufung nicht auftauchst, bist du landesweit auf einer roten Liste und der Sicherheitsdienst sucht nach dir. Meine Frau hat mich bedrängt, nicht allzu lange zu warten. Es blieb nicht viel Zeit, sich innerlich auf die Flucht vorzubereiten oder uns richtig zu verabschieden.

Gassan: Es tut immer noch weh, die Familie zurückgelassen zu haben. Ich bin genau an meinem Geburtstag losgegangen. Schau hier, da gibt es noch das Foto, wie wir alle ein letztes Mal gemeinsam Torte essen.

Ahmad (scherzend): Hast du dir auch ein ordentliches Stück mit auf den Weg genommen?


Viele Syrer fliehen über die Türkei nach Griechenland. Wie habt ihr diesen Meeresweg überbrückt?

Ahmad: Die meisten gehen von Azmir oder Bodrum weiter nach Griechenland. Wir haben von Freunden und Bekannten gehört, welche Route besser ist und vor allem, welchen Menschen wir vertrauen können. So haben Gassan und ich uns auch kennen gelernt: Wir machten beide einen Deal mit demselben Schmuggler, der uns mit seinem Schlauchboot nach Griechenland brachte. Wir waren 40 Leute an Bord und jeder musste 1000 Euro zahlen.

Oh, der Schmuggler muss jetzt ein reicher Mann sein!

Ahmad: Ja, das ist er ganz bestimmt. Die erste Überquerung hatte nicht geklappt, die türkische Polizei hatte uns aufgegriffen. Dann haben wir noch eine weitere Nacht im Hotel verbracht und dann am nächsten Tag hatten wir Glück. Du kannst ja die griechischen Inseln von Bodrum aus sehen. Die Überfahrt ist also nicht tagelang wie für Leute aus Libyen. Wir haben etwa zwei Stunden gebraucht.

Majd: Meine Fahrt hat sechs Stunden gedauert, ich bin von Azmir aus gefahren. 1200 Euro hat es mich gekostet.

Gassan: Unsere Dokumente und das Geld haben wir in Plastiktüten verpackt oder in Luftballons, um sie vor Wasser zu schützen. Das klingt bestimmt sehr lustig mit den Luftballons. Ihr lacht vielleicht darüber, aber wenn wir uns daran erinnern, ist uns zum Weinen!

Wie sah von dort aus eure Route aus? War Deutschland von Anfang an euer Ziel?

Ahmad: Von Griechenland aus sind wir zu Fuß durch Mazedonien und dann über Serbien und Ungarn nach Österreich und dann nach Deutschland. Wir sind haben uns sehr bewusst für Deutschland entschieden, weil wir mit unserer Familie in einem sicheren Land leben wollen. Wir schätzen es sehr, dass man in Deutschland – unabhängig von Meinung oder Religion – als Mensch behandelt wird.

Und wo seid ihr in der ganzen Zeit untergekommen? Hattet ihr genügend Essen und Geld dabei?

Gassan: Ich sag nur: Snickers und Red Bull! Das hat uns gerettet, wenn wir mal ein paar Tage nichts Ordentliches zu essen kaufen konnten. Und was das Geld anbelangt: Unsere Familie hat uns immer über Western Union Geld geschickt.

Ahmad: Wir haben, sooft es ging, in Hotels oder Gästezimmern übernachtet. Das war nicht immer möglich.

Majd: Ja, zum Beispiel auf den griechischen Inseln musste ich fünf Tage auf der Straße verbringen.

Gassan: Und in Mazedonien! Das war so schlimm.

Mazedonien war schlimm? Mögt ihr erzählen, warum?

Ahmad: Damals hatte die mazedonische Regierung Syrern die Durchreise noch nicht erlaubt, also konnten wir keinen Zug oder Bus nehmen. Wir mussten den ganzen Weg, also rund 200 km zu Fuß gehen. Wir sind tagelang entlang der Zugstrecke gegangen, und es wollte kein Ende nehmen. Nachts haben wir zwischen den Bäumen, in der Nähe der Straße geschlafen.

Gassan: Und wurden immer um vier Uhr wieder wach, weil es so kalt war!

Ahmad: Es gab auch keine Hilfsorganisationen, kein Rotes Kreuz, niemand, der uns hätte helfen können. Schlimmer noch, in Mazedonien gibt es mafiöse Banden, die die Flüchtlinge überfallen.

Ist euch das auch passiert, wurdet ihr auch überfallen?

Ahmad: Ja, zweimal sogar. Einmal hatten wir den Weg verloren, es war schon ganz dunkel. So dunkel, dass wir wirklich gar nichts mehr sehen konnten. Wir hatten solche Angst. Wir fanden eine Kirche und klopften an. Der Mann an der Pforte öffnete nur einen kleinen Spalt und fragte, was wir wollen. Ich erklärte ihm, dass wir aus Syrien seien, zeigte ihm meinen Pass. Wir baten darum für ein paar Stunden bleiben zu dürfen, bis zum Sonnenaufgang nur. Das hier war kein sicherer Ort, um draußen zu schlafen! Aber er ließ uns nicht hinein.

Gassan: Wir mussten also draußen bleiben. Keine zehn Minuten später kamen bewaffnete Männer und verlangten unser Geld. Wir waren acht Personen, aber was konnten wir tun?

Ahmad: Wir hatten ja nicht wie sie Pistolen oder Elektroschocker. Außerdem, hätten wir uns gewehrt, dann würde in den Medien stehen: Flüchtlinge machen Probleme! Wir versuchten zu verstehen, warum sie uns ausrauben. Wir haben nichts, wir haben alles schon verloren, als wir unser Land verließen! Ich sagte ihnen: Der Euro, den du von mir nimmst, ist der Euro, den ich meiner Frau wegnehmen musste, um fliehen zu können! Nun, einer der Männer erklärte uns, das Geld sei nicht für ihn, sondern für den „Big Fish“, also seinen Boss. Ihnen war es egal, dass wir schwach waren.

Das hört sich wirklich schrecklich an!

Ahmad: Weißt du, eben war ich noch zu Hause und nun, keine zehn Tage später, schlafe ich auf der Straße. In meinem Land bin ich ein erfolgreicher Mann, kein Obdachloser. Das zu begreifen, ist nicht leicht!

Gassan: Zwischenzeitlich sind wir wie verrückt geworden. Wir waren wie Monster, keine menschlichen Wesen mehr. Schlafen, gehen, weiter gehen. Manchmal haben wir uns einfach nur in den Schlaf geweint.


Wenn ich das so höre, fange ich an zu verstehen, warum ihr nicht eure Familien mitgenommen habt. Manch einer in Deutschland wundert sich, warum so viele Männer kommen und alle ihre Frau und Kinder daheim lassen.

Familie auf der Flucht an der Grenze
Die immensen Strapazen und Gefahren einer Flucht mit Kindern wollen viele Väter umgehen und machen sich daher allein auf die Flucht – um ihre Familie später auf legalem Weg nachzuholen. – Foto von Freedom House

Gassan: Denkst du, ich würde meine Frau und meine Kinder mit mir auf die Flucht nehmen und mit ihnen auf der Straße schlafen, zwischen den Bäumen? Und dann hört man ja auch immer wieder von Leuten, die bei der Meeresüberquerung umgekommen sind. Wir als einzelne Männer, wir können die Strapazen auf uns nehmen, können das Risiko eingehen. Aber ich akzeptiere das nicht für meine Familie. Ich hätte zuviel Sorge um sie.

Ahmad: Wenn ich sterbe, ist das kein Problem, aber was wird aus meinen Kindern, darüber denken wir die ganze Zeit nach. Wenn wir allerdings eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen, gilt das auch für unsere Familie. Die kann dann ganz normal mit dem Flugzeug hierher reisen und muss nicht den gefährlichen Weg auf sich nehmen.

Majd: Und natürlich gibt es Familien, die keine andere Wahl haben, weil sie zu Hause schon alles verloren haben, weil vielleicht ihr Haus zerstört ist, es keinen Platz mehr zum Schlafen gibt. Dann gehen natürlich alle zusammen auf die Flucht.

Und verlief die Tour nach Mazedonien einfacher? Was ist aus den anderen geworden, ihr wart doch zu acht?

Ahmad: Nein, leicht war der Rest des Weges auch auf keinen Fall. Aber wir mussten nicht mehr soviele Tage am Stück zu Fuß wandern. Die Sache ist die, wir hatten alle Angst vor Ungarn. Die Ungarn nehmen einen Fingerabdruck von dir und dann überlassen sie dich dir selbst. Oder schlimmer noch, du landest im Gefängnis. Wir wollten auf alle Fälle verhindern, dass man uns einfängt und zwingt, einen Fingerabdruck zu machen. Wegen des Dubliner Übereinkommens hätten wir dann nicht weiter nach Deutschland gekonnt. Also haben wir wieder einen Deal gemacht.

Gassan: Der hat 1700 Euro pro Person gekostet. Für eine sechsstündige Autofahrt durch Ungarn nach Österreich.

Ahmad: Abgemacht war, dass wir zu Fuß über die ungarische Grenze kommen und dort von einem Schmuggler abgeholt würden. Doch während wir die Grenze überquerten, tauchte plötzlich ein Helikopter über unseren Köpfen auf! Sie hatten uns erspäht.

Gassan: Dann sahen wir unser Auto und sind schnell reingesprungen. Die vier anderen, mit denen wir unterwegs gewesen waren, wurden gefasst! Wir hatten Glück. War das ein Moment! Hätten sie uns erwischt, wäre alles verloren gewesen. Als wir im Auto waren, haben wir den Koran gelesen. Um Gott zu danken, dass er uns beschützt hat.

Ahmad: Und was mir besonders in Erinnerung blieb, war der Fahrer, ein ungarischer Christ. Ich sah die Tränen in seinen Augen und wie sie ihm die Wangen runter rannen. Er küsste das Kreuz von seiner Kette und ich dachte, dass doch in diesem Moment viel Weisheit liegt. Wir nutzen unterschiedliche Wege, Gott zu danken, doch letztendlich ist es derselbe Gott, der uns beschützt. Am Ende haben wir alle geweint vor Erleichterung.

Nach zwei Monaten und vielen Entbehrungen seid ihr endlich in Deutschland angekommen und schließlich hier in Mölln gelandet. Herzlich Willkommen! Wie findet ihr es hier bei uns?

Ahmad: Wir freuen uns sehr hier zu sein. Die Menschen hier sind so fantastisch! Wir werden niemals die immense Unterstützung der Bewohner Möllns vergessen, wir sind so dankbar. Auch das Educare Institut und das Internationale Café sind tolle Einrichtungen. Schade ist nur, dass wir noch keinen offiziellen Deutschkurs belegen dürfen. Das geht erst, wenn wir eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Solange sitzen wir hier, drehen Däumchen und warten auf den Postboten.

Ihr habt sicher auch schon von den besorgten Stimmen in Deutschland gehört?

Ahmad: Manche Leute in Europa haben Angst vor Muslimen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen: Ja, wir sind Muslime, aber wir sind keine Terroristen. Wir sind einfach nur Menschen, die alles aufgegeben haben, um hierher zu kommen, weil wir Sicherheit für uns und unsere Familie brauchen. Wir drei zum Beispiel sind sogar auf die Universität gegangen in Syrien! Und wir sind auch nicht wegen des Geldes hier. Es ist für uns ganz schwer und unbegreiflich, dass wir momentan finanzielle Unterstützung von Deutschland bekommen, ohne arbeiten zu dürfen. In unserem Elternhaus haben wir gelernt, dass man arbeiten muss, um ausgeben zu können.

Gassan: Ich möchte auf die Deutschen einen guten Eindruck machen. Von uns Syrern. Doch wir können nicht alle Regeln von alleine wissen, daher machen wir Fehler. Ich wünschte, ihr würdet nicht nur darauf warten, dass wir etwas falsch machen. Ich wäre froh, wenn man in uns auch das Gute sieht, was wir mitbringen.

Majd: Wir begrüßen jede Art von Treffen zwischen Deutschen und syrischen Leuten. Dort können wir Fragen beantworten und versuchen uns zu erklären. Wenn ihr mich nur auf der Straße seht, dann wisst ihr nichts von mir, weil ihr mich nicht kennt. Daher ist es wichtig, dass wir miteinander reden und lernen, uns zu verstehen. Und es ist egal, wo so ein Treffen stattfindet. In einer Moschee oder Kirche, auf einem Fest, zu Silvester, ganz gleich: Wir sind dafür jederzeit offen!

Gibt es etwas, das ihr unseren Lesern mitteilen wollt?

Gassan: Ich mag es, wenn mich Leute auf der Straße anlächeln. Ich brauche nichts von niemandem, aber wenn ihr mich anseht und lächelt, bin ich glücklich. Das ist es, was ich an Unterstützung brauche. Euer Lächeln tut so gut.

Ahmad: Zwei Dinge fallen mir da ein. Zum einen wollen wir jede Aktivität in der Region unterstützen, die einen Nutzen hat für Mölln oder den Kreis. Wir haben viel Zeit und würden wirklich gerne als Freiwillige eingesetzt werden. Wer also unsere Hilfe gebrauchen kann, darf sich gerne an uns wenden. Und die andere Sache ist eine Idee, die uns gekommen ist. Wir sind mit anderen syrischen Flüchtlingen an das Rote Kreuz herangetreten, weil wir Blut spenden wollten. Nur leider ist das Problem, dass nur diejenigen Blut spenden können, die eine Aufenthaltserlaubnis haben. Man sagte uns, wir könnten nicht Blut spenden, weil wir nicht deutsch reden.

Gassan (scherzend): Wir verstehen das nicht so genau. Vielleicht kommt das daher, weil das Blut der Deutschen rot ist und unseres ist blau!


Könnt ihr euch vorstellen, wieder nach Syrien zurück zu gehen?

Majd: Ja, vielleicht. Immerhin ist Syrien unser Heimatland.

Ahmad: Ich bin mir nicht sicher. Ich habe in Syrien alles hinter mir gelassen, nur um nach Deutschland zu kommen. Wenn ich hier dann ein neues Leben aufgebaut habe, will ich wahrscheinlich nicht alles erneut aufgeben müssen, nur um in Syrien dann wieder von vorne anzufangen. Auf jeden Fall würde ich gerne mal eine Reise dahin unternehmen. Aber wenn das soweit ist, werde ich nicht alleine reisen. Sondern mit meinen guten deutschen Freunden.

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Quellen und weitere Hinweise

Quellen und weitere Hinweise
1 Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen redaktionell geändert. Das Interview erschien zuerst im Regionalmagazin „Herzogtum Direkt

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