Von der Angst, auf Reisen verrückt zu werden (Rezension)
„Nichts ist deprimierender als der Tag vor einer weiten Fahrt. Es ist, als würde man nie wieder zurückkommen.“ beschreibt der niederländische Schriftsteller Maarten ‚t Hart die Melancholie der Vorabende großer Reisen.
Kennst du auch dieses Gefühl, diese Muffensausen, bevor es richtig los geht? In seinem Buch „Das Selbst und die Fremde“ widmet sich Jens Clausen diesem und anderen Phänomenen von psychischer Reisekrankheit. Es geht um die Angst, verrückt zu werden; um die Einsamkeit in Hotelzimmern; das Gefühl fremd und verloren zu sein im Reiseland – dem Verlust des Selbst in der Fremde. Dabei dient als Grundlage seine Dissertation, eine Studie über autobiographische Reiseberichte von Menschen, die auf einer Fernreise in eine Krise geraten sind.
Verrückt? Reizüberflutung führt zur Selbstauflösung
So beschreibt Clausen zum Beispiel das Jerusalem Syndrom: Menschen drehen an heiligen Stätten auf einmal völlig frei und verfallen einem religiösen Wahn. Oder das Stendhal Syndrom: Auf historischen Pfaden zu wandeln oder zwischen bedeutungsschwangeren Gemälde-Galerien, Kirchen oder Museen … das raubt manch Reisendem den letzten Nerv. Dann landen sie psychisch verwirrt und emotional total verloren in Kliniken und brauchen ein paar Tage, um sich wieder zu sammeln. Grund dafür ist die Überwältigung der Psyche im Angesicht welthistorischer Größen.
Ich bin dafür, dass auch ein Hölderlin-Syndrom eingeführt wird, um auch eine Diagnose für all diejenigen armen Gestalten zu haben, die eine Reise zeitlebens völlig ins Aus katapultiert hat. So ist der knapp 30jährige Schriftsteller Friedrich Hölderlin im Dezember 1801 zu Fuß nach Frankreich gewandert, nach acht Wochen völlig erschöpft angekommen und ist dann dort über die Zeit in immer tiefere geistige Verwirrungen geschlittert. Als er fünf Monate später abgemagert und heruntergekommen in die Heimat zurückkehrt, erkennen ihn seine Freunde kaum wieder. Er ist fortan von „Raserey“ zerrüttet und wird die letzten 36 Jahre seines Lebens in einem Turmzimmer am Neckar verbringen, in extremer geistiger Umnachtung. Das erinnert freilich auch ein wenig an das traurige Los von Nietzsche, der mit 45 Jahren jeden Sinn für Realität verloren hatte. Sogar ohne zu reisen. Das sind dann vielleicht die dunklen Kräfte einer Schriftsteller-Seele, die die einen hinwegrafft, die anderen grandiose Werke erschaffen lässt (oder beides miteinander verzahnt).
Reise Delirium: Altbekannt und keine Seltenheit
Man reist nicht, um sich wie ein Christbaum mit Anekdoten zu schmücken, aber damit die Straße einen rupft, ausspült, auswindet… (N. Bouvier aus „Die Erfahrung der Welt„)
Das Meer lullert einen ein, dass die Zeit ganz anders vergeht; in den Gassen von fremden Großstädten überkommt einen plötzlich Sinnleere; und in Hotels herrscht völlige Beziehungslosigkeit und Anonymität: „Jeder ist mit sich allein, wohnt hinter Doppeltüren und hat nur sein Spiegelbild im Ankleidespiegel zum Gefährten oder seinen Schatten an der Wand. […] Das ist alles. Dahinter liegt eine abgrundtiefe Einsamkeit“ (Vicky Baum: Menschen im Hotel)
Du ziehst in die Fremde um Neues zu entdecken und hast auf einmal Angst, dich komplett selbst zu verlieren. Diese Sorgen sind nicht neu, nur verlieren sie an Gewicht angesichts des schon fast verpflichtenden Reisewahns, der um sich greift. Immer weiter und öfter hinaus, das ist die Devise und zugleich ist das eine Flucht vor dem Alltag, eine Flucht vor der Normalität.
Aber eben diese Normalität bedeutet auch Sicherheit und Struktur. Bei einer Reise in ferne Länder, müssen Geist und Seele große Anpassungsleistungen vollziehen, die inzwischen viel zu sehr unterschätzt werden. Man lässt das Vertraute hinter sich und begibt sich ins Ungewisse. Selbst der viel gereiste Goethe sucht sich daher das Vertraute in der Fremde, hält sich am Gegenständlichen fest, um nicht den Halt zu verlieren.
Was durchs Reisen aus dir herausbricht…
Clemens gelingt es mit seinem Buch „Das Selbst und die Fremde“ vorzüglich, den Leser hinab zu nehmen in die Sphären des Unterbewussten, hin zu den Grenzerfahrungen Reisender. Einem wird bewusst, wie einschneidend und tiefgreifend so eine Reise für Geist und Seele eigentlich sein können, wie Reisen in allen Kulturen immer auch symbolisch mit dem Sterben verbunden war und das Wahn und Krise durch eine Reise Hand in Hand gehen können. Ursachen und mögliche Erklärungen für diese Empfänglichkeit von innerer Aufruhr finden leider jedoch nur am Rande Erwähnung. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, mit dieser Fülle von Bildern menschlicher Abgründe umzugehen.
Wenn mir ein persönliches Fazit erlaubt ist, so glaube ich, dass eine Reise nur das aus dir hervorbringen kann, was im Keim schon angelegt war. Natürlich bedeuten Grenzerfahrungen Stress für dich, aber wenn du gelernt hast, wirksame Schutzmechanismen aufzubauen und immer wieder Ruhe und Frieden in dir zu finden, ganz gleich wo du bist, dann wirst du auch auf einer Reise gut auf dich achten und an den Erfahrungen wachsen können. Basis dafür ist die grundsätzliche Neugier für die Welt und die Menschen darin. Dann kannst du dich gespiegelt sehen und bewusst und neu wahrnehmen.
Das Selbst und die Fremde
– Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen
- von Jens Clausen, 2007
- 340 Seiten
- Verlag: Edition das Narrenschiff, Psychiatrie Verlag